GHDI logo


Europäische Integration und nationale Interessen (1962)

Wie tief greifend die Integration im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gehen sollte, wurde von den Regierungen der Mitgliedsstaaten von Anfang an unterschiedlich beurteilt. Basierend auf Reden europäischer Staatsmänner werden hier die Positionen Frankreichs, der Bundesrepublik und Großbritanniens wiedergegeben, die grundlegende Meinungsunterschiede sowohl im Ziel als auch im Inhalt der europäischen Integration aufdecken.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 2


Die Meinungsverschiedenheiten über die Konstruktion Europas

Zusammengestellt von der Redaktion auf Grund der im „Archiv der Gegenwart“ in letzter Zeit veröffentlichten Erklärungen der betreffenden Staatsmänner


1. Frankreich

General Charles de Gaulle will ein Europa der Staaten (Regierungen) und kein integriertes übernationales Europa, das er als Mythos und Fiktion bezeichnet; er will, daß die Staaten (Regierungen) auch in wirtschaftlichen Dingen das entscheidende Votum haben und nicht die übernationalen Behörden der Europäischen Gemeinschaften, wie z. B. die EWG-Kommission; er ist gegen Mehrheitsbeschlüsse des europäischen Ministerrates in allen vom nationalen oder internationalen Gesichtspunkt aus bedeutenden Fragen, weil weder Frankreich noch irgendein anderes Land bereit sei, auf Kommando anderer etwas zu tun, was ihm schlecht oder falsch erscheine; er stellt fest, daß es für ein integriertes Europa an einem Föderator mangele, der Kraft, Kredit und Resonanz für dieses Werk besitze, und warnt davor, daß ein integriertes Europa infolge der Mehrheitsbeschlüsse keine eigene Politik entwickeln würde, und daher einem Föderator, der von außen komme und kein Europäer sei (USA), aus Schwäche Folge leisten könnte. Er ist bereit, dem europäischen Parlament das Recht zuzugestehen, auch politische Fragen zu erörtern, nicht aber Gesetze zu beschließen, die die europäischen Staaten binden würden; de Gaulle sieht es nicht gerne, daß Großbritannien sich um die Mitgliedschaft bei der EWG bewirbt, da er besorgt ist, daß ihm dieses Land die von ihm beanspruchte Führerrolle in der Europäischen Union streitig machen könnte, zumal Großbritannien auf nuklearem Gebiet — teils dank der amerikanischen Informationen, die de Gaulle verweigert werden — einen starken Vorsprung besitzt; er fürchtet auch, daß Großbritannien zu Gunsten der Commonwealth-Länder insbesondere in Afrika den 12 afrikanischen Republiken, die früher französischer Besitz waren und jetzt mit der EWG assoziiert sind, die Vorteile streitig machen könnte, die diese in Form von Anleihen aus dem Entwicklungsfonds der EWG genießen. Er ist entschlossen, die französische Armee, die Gefahr lief, in der Algerienkrise in eine Stellung gegen den Staat gedrängt zu werden, enger mit der Nation zu verknüpfen und im wesentlichen auf französischem Boden zu stationieren, sowie die Verteidigung wieder zu einer nationalen Verteidigung werden zu lassen. de Gaulle bleibt bei seinem Entschluß, eine eigene französische nukleare Abschreckungsmacht aufzubauen. Solange die USA die klare nukleare Übermacht über die Sowjetunion hatten, konnte es nach seiner Meinung gerechtfertigt werden, daß Frankreich seine Verteidigung praktisch den USA überließ; damals habe man noch als sicher annehmen können, daß jede kommunistische Aggression in Europa durch einen nuklearen Gegenschlag der USA zunichte gemacht werden würde. Bei dem derzeitigen nuklearen Patt der beiden Giganten und ihrem gegenseitigen Wissen, daß jeder der beiden den anderen zu vernichten vermag, kann nach Auffassung de Gaulles niemand im voraus wissen, ob, wann und unter welchen Umständen sich die USA zu einem nuklearen Gegenschlag entschließen und damit das Risiko eines Selbstmordes auf sich nehmen würden. Dies ist auch ein Grund dafür, daß de Gaulle ein Europa als Dritte Macht zwischen den beiden Giganten wünscht, die ihre Stimme in der Welt erheben und — mit erforderlicher Schlagkraft ausgestattet — auch wirksam zu Gehör bringen kann. In diesem Sinne wünscht de Gaulle auch eine Reform der NATO — die er grundsätzlich als notwendig anerkennt und deren Verpflichtungen zu erfüllen er bereit ist —, durch die die europäischen Staaten eine Art Mitspracherecht über Organisation und Einsatz der amerikanischen nuklearen Abschreckungsmacht im Rahmen der NATO erhielten, die NATO selbst auch auf Afrika und Asien ausgedehnt würde, und eine Art Dreierdirektorium für weltweite Fragen durch regelmäßige Zusammenkünfte der Regierungschefs der USA, Großbritanniens und Frankreichs geschaffen werden sollte. In der Berlin-Frage ist de Gaulle gegen jedes Abrücken von den Viermächte-Vereinbarungen des Besatzungsregimes. Er duldet die sogenannten Berlin-Sondierungen der USA auf eigene Rechnung mit der UdSSR, erklärt, daß Frankreich damit nichts zu schaffen habe, und betont, daß er solche Verhandlungen nicht nur für zwecklos, sondern auch für gefährlich halte. Nach seiner Ansicht dienten der Sowjetunion das Berlin-Problem und die von ihr inszenierten Berlin-Schikanen nur als geeignete, weil empfindliche Ansatzpunkte, um das gesamte Deutschland-Problem in ihrem Sinne aufzurollen. Jede der UdSSR in der Berlin-Frage gewährte Konzession werde daher nur zu neuen Schikanen und Pressionen unter verschlechterten Bedingungen für den Westen führen. In der Deutschland-Frage ist de Gaulle dafür, angesichts des prekären Gleichgewichts zwischen Ost und West, die vollzogenen Tatsachen derzeit nicht zu ändern, da jede Verhandlung das Risiko eines Rückschlags für den Westen in sich schließe und da von der Solidarität zwischen Deutschland und Frankreich die Hoffnung, Europa zu einigen, und das Geschick Europas vom Atlantik bis zum Ural abhänge. Dank dieser Solidarität könne durch Schaffung eines attraktiven Westeuropas ein europäisches Gleichgewicht zu den Staaten des Ostens hergestellt werden, zumal, wenn gleichzeitig das dortige totalitäre Regime seine Ambitionen aufgebe. Erst dann werde das deutsche Problem objektiv gelöst werden können.

[ . . . ]

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite