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Adolph Freiherr von Knigge, „Der neue Staat” (1792)

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Selten also urtheilt die gegenwärtige Generation richtig über die großen Weltbegebenheiten ihrer Zeit; wenigstens wage sich niemand daran, der nicht oft den Versuch gemacht hat, mit philosophischem Blikke, ohne Systemgeist, unpartheiisch (so viel das möglich ist) über allgemeine Gegenstände der Politik, über die Vortheile und Nachtheile einzelner Staatsverfassungen und, an der Hand der Geschichte, über die Ursachen des Glanzes und des Sturzes älterer Reiche und Völker nachzudenken! Es wage sich nicht an diese Arbeit der Mann, dem die kleinern Lokal-Umstände fremd sind, der den Geist, die Stimmung, den Grad der Cultur der Nation, wovon die Rede ist, nur aus Büchern kennt! Es wage sich nicht an diese Arbeit der Stuben-Gelehrte, der bis dahin mehr mit verstorbnen, als mit lebenden Menschen umgegangen ist und der die gewaltigen Stürme des Lebens, welche Leidenschaften aller Art erregen können, nur von dem Fenster seines warmen Studier-Zimmers herab, in ihren fürchterlichen Folgen beäugelt, nie aber ein unmittelbar theilnehmender Zeuge dabey gewesen ist, und nie die ersten, oft sehr kleinen Ursachen der Entstehung beobachtet hat! Endlich wage sich nicht an diese Arbeit der Reisende, der das Land mit Postpferden durchstreicht und aus den Gesprächen der einzelnen Anhänger dieser und jener Parthey, die er bey seinem kurzen Aufenthalte in den Städten kennen lernt, den Stoff zu seinen allgemeinen Urtheilen entlehnt!

Nach solchen Voraussezzungen wird man mich nicht in den Verdacht haben, ich wolle diese Grundsäzze bey meinem Raisonnement über die französische Revolution verleugnen, oder ich hielte mich berufen, über dieselbe, so wie über die Vorzüge und Mängel der neuen Constitution zu entscheiden. Meine Absicht ist im Gegentheile, zu zeigen, wie wenig wir noch jezt im Stande sind, in dieser großen Begebenheit klar zu schauen, zu warnen vor übereilten Urtheilen, vor unzeitiger Furcht und vor blindem Eifer, und endlich aufmerksam zu machen auf die allgemeinern Grundsäzze, von denen wir ausgehn müssen, wenn wir etwas Passendes von der französischen Staats-Umwälzung und deren vermuthlichen Folgen sagen wollen.



Quelle: Adolph Freyherr von Knigge, Josephs von Wurmbrand, Kaiserlich abyssinischen Ex-Ministers, jezzigen Notarii caesarii publici in der Reichsstadt Bopfingen, politisches Glaubensbekenntniss, mit Hinsicht auf die fanzösische Revolution und deren Folgen. Frankfurth, Leipzig, 1792.

Abgedruckt in Adolph Freyherr Knigge, Josephs von Wurmbrand, Kaiserlich abyssinischen Ex-Ministers, jezzigen Notarrii caesarii publici in der Reichstadt Bopfingen, politisches Glaubensbekenntniß, mit Hinsicht auf die französische Revolution und deren Folgen, Herausgegeben von Gerhard Steiner. Frankfurt am Main: Sammlung Insel, 1968, S. 23-28.

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