GHDI logo

Alfred Kurella über die „Einflüsse der Dekadenz” (Juli 1957)

Seite 3 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Ästhetik des Häßlichen

Die Lösung der schwierigen Probleme wird vollends dadurch erschwert, daß wir zuwenig einer Haltung entgegentreten, die die realistische Kunst als alten Schuh betrachtet, nasenrümpfend auf den “popligen Geschmack” der Massen herabblickt, über den Begriff “Traditionen” die Achseln zuckt, und am Ende demagogisch ausfällig wird, wenn jemand von deutschen Traditionen spricht. Ich finde, daß wir von einer wachsenden Diskriminierung von kulturellen Werten sprechen können, die wiederherzustellen und auf höherer Stufe weiterzubilden wir als Sozialisten, als Repräsentanten der Arbeiterklasse und ihrer Kultur berufen und verpflichtet sind, nachdem die Bourgeoise sie praktisch mit Füßen getreten und theoretisch aufgelöst und “widerlegt” hat. Unter Gebildeten, in bestimmten Schichten unserer öffentlichen Meinung, gibt es eine ganze Reihe von snobistischen Selbstverständlichkeiten: ein Bild, auf dem etwas drauf ist, ist kein Bild. Wer das für ein Bild hält, versteht nichts von Kunst. Melodie? Harmonie? Feste Kompositionsformen? – das war einmal, die moderne Musik hat sich andere Mittel erobert. Das Schöne als Leitgedanke der Kunst? – ein alter Schinken. Die Ästhetik des Häßlichen ist Trumpf!

Keine Konzessionen!

Wir haben bewiesen, daß wir durchaus nicht diese Zerstörer aller überlieferten Ordnung sind, als die der Gegner uns hinstellt. Wir können für uns das alte Wort in Anspruch nehmen “Ich bin nicht gekommen, um das Gesetzt aufzulösen, sondern zu erfüllen”, und wir sind es, die, wir Thomas Mann sagt, etwas “dazutun”, daß unter den Menschen solche Ordnung sich herstelle, die dem schönen Werk wieder Lebensgrund und ein redliches Hineinpassen bereitet. Aber statt diesen positiven Kern unserer sozialistischen Kulturpolitik hervorzukehren und mutig ins Feld zu führen, zeigen wir in jüngster Zeit gar zu viel Bereitschaft, den zudringlichen Jüngern der Dekadenz bei uns Konzessionen zu machen und ihnen Positionen einzuräumen. Unsere Gesellschaft enthält (abgesehen von einigen Zersetzungserscheinungen in echten deklassierten Schichten) nichts, was unsere Jugend in diese Richtung drängt. Sie hat ganz andere Bedürfnisse. Nur verstehen wir es nicht, die hier vorhandene Bereitschaft mit unseren Idealen mit den großen starken Inhalten unseres neuen Lebens zu verbinden. Dieses Unvermögen hat aber seine Ursache zum Teil darin, daß allzuviele, die als Künstler oder als Propagandisten diese Mission erfüllen könnten, vom Snobismus angekränkelt sind, Scheu davor haben, als konservativ, altmodisch und unmodern zu gelten, vor allem aber auch zuwenig Vertrauen in unsere eigene Stärke haben und zuwenig von den eigentlichen neuen Kräften unserer Wirklichkeit wissen. Es ist unerläßlich, auf die Gefahr wachsender dekadenter Einflüsse hinzuweisen.



Quelle: Sonntag, Nr. 29, 21. Juli 1957.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite