GHDI logo

Adolf Busemann, „Verwilderung und Verrohung” (1956)

Seite 2 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Die „Bande“

Zum Abschluss dieser Kostproben ein gerade die deutsche Presse beschäftigender Fall von Bandentum:
„Essen, 18. Jan. (dpa). Insgesamt 81, zum Teil schwere, Einbrüche in Lebensmittel- und Sportgeschäfte sowie in Gastwirtschaften hat die Essener Polizei einer Bande von vierzehn Schülern im Alter von neun bis vierzehn Jahren nachgewiesen, die im vergangenen Halbjahr bis Anfang Januar die Essener Innenstadt und den Stadtteil Essen-Ost unsicher machte. [ . . . ] Den Jungen ging es bei ihren Einbrüchen hauptsächlich um Bargeld. Sie erbeuteten etwa 1000 DM und nahmen auch kartonweise Schokolade und Zigaretten zum ‚eigenen Verbrauch‘ mit. Bei ihren Taten richteten sie aber für weit über 10 000 DM Schaden an, da sie an den Einbruchsstätten wild hausten. [ . . . ]
Der Bandenführer erklärte der Polizei, ihm sei die Idee zur Bildung einer Bande durch das Lesen von Wildwest-, Banditen- und Kriminalromanen gekommen. Die Jungen stammten fast durchweg aus ordentlichen Essener Familien. Die Eltern hatten von dem Treiben ihrer Sprösslinge keine Ahnung. Die meisten Bandenmitglieder werden straffrei ausgehen, da sie zum Zeitpunkt ihrer letzten Tat noch nicht vierzehn Jahre alt waren. Für den angerichteten Schaden müssen die Eltern aufkommen.“

Können Kinder so sein?

Aber sind denn Kinder wirklich solcher Untaten fähig? Mit Verlaub! 12 bis 14jährige junge Menschen sind heute, infolge der Beschleunigung der körperlichen Entwicklung, keine Kinder mehr. Mit dreizehneinhalb Jahren haben sie durchschnittlich die volle Geschlechts- und Fortpflanzungsfähigkeit erreicht (etwa 2 Jahre früher als um 1900). Die Kindheit geht, psychologisch und physiologisch, heute normalerweise mit 10-11 Jahren zu Ende, der Begriff „Schulkind“ deckt sich heute annähernd mit dem Begriff „Grundschulkind“. Der Lehrer der oberen Volksschulklassen, erst recht der Lehrer der unteren Gymnasialklassen, hat es nicht mit Kindern, sondern mit pubertierenden bzw. schon vollreifen jungen Menschen zu tun (wovon die Schulbehörden allerdings bislang kaum Notiz nahmen). In einer süddeutschen Großstadt gab es 1953 nicht weniger als 23 fünfzehnjährige Ehefrauen und sogar eine Vierzehnjährige. Eine andere deutsche Großstadt erlaubt schulpflichtigen Müttern, ihre Kinder mit in die Schule zu bringen, wo sie – in stattlicher Anzahl – in einem entsprechen eingerichteten Raum von einer Kinderschwester während der Unterrichtsstunden der jungen Mütter betreut werden. Das sind freilich „Lichtpunkte“ im Vergleich zu dem, was oben berichtet werden musste, aber sie illustrieren trefflich, dass es sich in der Volksschuloberstufe nicht um Schulkinder handelt.

Nun muss noch eines berücksichtigt werden: dass auch innerhalb der Kriminalität der Erwachsenen die Rohheitsverbrechen, Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, relativ häufiger geworden sind. Was uns in dieser Zeitschrift besonders interessiert, ist die Zunahme von Kindermisshandlung durch die Eltern, und auch hier wieder die der schwersten Fälle. Besonders das Totprügeln des eigenen Kindes wird leider oft recht milde bestraft, zumal wenn man daneben die Strafe hält, die einen Lehrer bedroht, wenn er sich einige Schläge mit dem Rohrstock auf das Hinterteil eines der rohen Tierquälerei überführten Schülers erlauben sollte! Ein grausiger Einzelfall nur: aus dem Mülleimer, der auf der Straße zum Abholen bereit steht, dringen sonderbare Laute. Man öffnet das Gefäß. Unter Asche und Abfall liegt ein lebendiges neugeborenes Kind. Seine Mutter war auf diese Weise mit ihm fertig geworden. Das Kind konnte gerettet werden. Geschehen in Marburg-L., Deutschland.

Dieser flüchtige Überblick genügt wohl, um die Behauptung zu rechtfertigen, dass (seit etwas 1920) in unserem Volke die Hemmungen gegen Gewaltakte bedenklich schwächer geworden sind, und es erübrigt sich, an jene Handlungen zu erinnern, an denen sich Zehntausende beteiligten, ohne sich überhaupt auch nur dessen bewusst zu werden, dass sie unerhörte Verbrechen begingen, - von den im engeren Sinne politischen Morden seit 1918 ganz zu schweigen. Es bedarf auch kaum des Hinweises, dass das rücksichtslose Fahren auf öffentlichen Straßen psychologisch gesehen in unmittelbarer Nähe von Rohheitsakten liegt und nicht selten offenkundig ihren Charakter annimmt. Ein Abbau jener Hemmungen ist im Gange, mit deren Aufbau einst die menschliche Gesittung begann, und ohne die ein friedliches Zusammenleben von Menschen unmöglich ist, denn die Respektierung des Lebens und der Gesundheit, das 5. Gebot im Katechismus: „Du sollst nicht töten!“, ist die allererste Voraussetzung für alle menschliche Kultur.

Hier also stehen wir, und die angeschwollene Jugendkriminalität ist im Grunde nur eine Teilerscheinung des Kulturzerfalls und wahrscheinlich also auch von denselben Faktoren verursacht wie jener umfassende Prozess. Ob er letztlich biologische Ursachen hat oder auf die Technisierung des Lebens direkt zurückzuführen ist, oder ob man hier den Zerfall geistiger Systeme selbst vor sich hat, die Erschöpfung geistiger Kräfte, - das dürfen wir unerörtert lassen, weil uns eine unmittelbar dringliche Aufgabe obliegt.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite