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„Die Ausländischen Arbeitskräfte und Wir”, Frankfurter Allgemeine Zeitung (3. Juni 1961)

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„Nix arbeiten, nur besuchen…..“

Begnügen wir uns mit der Feststellung, daß das Vermittlungssystem aus den Nähten birst: 1960 sind 93 000 Italiener mit Legitimationsmarken der deutschen Außenstellen in die Bundesrepublik gekommen und weitere 43 000 auf „schwarzem Weg“. Von den 16 000 in der Bundesrepublik beschäftigten Spaniern sind mindestens 6000 „Schwarzgänger“, die als Touristen getarnt eingewandert sind. Insgesamt liegen bei den Deutschen Kommissionen rund 66 000 unerledigte Anforderungen vor. Gleichzeitig aber spielen sich an den Hauptgrenzübergängen tagtäglich ebenso turbulente wie unwürdige Szenen ab. Sie berühren auch unser Verhältnis zu den Transitländern Österreich, Schweiz und Belgien, und zwar recht empfindlich. Greifen wir einen einzigen beliebigen Augenzeugenbericht heraus. Die Klammern sind von uns gesetzt:

„Ich in Deutschland nix arbeiten (!), nur Freund besuchen!“ schrien immer wieder Hunderte von Italienern wild gestikulierend den Grenzbeamten in die Ohren. Aber die Grenzer ließen sich die Koffer öffnen und sahen hinein. Drinnen fanden sie meist Arbeitskleidung (!), und außerdem hatten die merkwürdigen Besucher kein Geld bei sich (!) nur eine einfache Fahrkarte. Die Fälle waren klar: Die Italiener wollten zur Arbeit (!) in die Bundesrepublik. Aber sie hatten keine Sichtvermerke, die sie zur Arbeit berechtigten. (Aber wir haben 500 000 unbesetzte Arbeitsplätze, davon allein 150 000 im Baugewerbe.). Und so mussten (!) sie wieder zurückgewiesen werden…Meist haben die Italiener, die schwarz in die Bundesrepublik einreisten, „etwas auf dem Kerbholz“, sagt die Grenzpolizei. Denn jeder, der in der Bundesrepublik arbeiten will, kann sich durchaus ordnungsgemäß an einer der beiden Zweigstellen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung melden….“

Zu dieser ebenso logischen wie wirklichkeitsfernen Polizistenlogik nur zwei Bemerkungen: Italien hat eine Länderausdehnung von fast 2000 Kilometern. Zum Zweiten: Je tiefer es in den Süden geht, desto mehr walten die einheimischen Behörden – nicht nur die italienischen – als eine Abart des unbegreiflichen Fatums. Die Ausfertigung der erforderlichen Papiere kann rasch gehen, sie kann Monate dauern. Es hat verbürgtermaßen schon bis zu einem Jahr gedauert. Zum nicht geringen Teil hängt es davon ab, wie man „Oben“ angeschrieben ist. Der Schwarzgänger kann natürlich etwas ausgefressen haben, aber er muss nicht. Jedenfalls lohnt es, den obigen Bericht in seiner ganzen Stupidität aufmerksam und zweimal zu lesen. So sieht vorderhand der Anmarsch zur Freizügigkeit der Arbeitskräfte und zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus. Dabei ist eine Steuerung der Einwanderung unerlässlich. Wenn sie nicht die Waage hält mit den Unterbringungsmöglichkeiten, dann entstehen Slums der schlimmsten Sorte und ein illegaler Menschenhandel vor dem Gott bewahre. Die Kernfrage ist, wie koppelt man das behördliche Vermittlungssystem, das gesetzlich verankert und wohl auch unerlässlich ist, mit der proklamierten individuellen Werbung und Freizügigkeit?

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