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Die Zeit: „Das große Kopfschütteln über die Jugend” (1956)

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Auch bei den beiden Beispielen eines verhältnismäßig noch harmlosen „Jugendfanatismus“ wird jene „Schuld der Zeiten“ sichtbar. Auf dem Fanatismus liegt hier die Betonung und in ihm jedenfalls die Gefahr. Wir haben ein hemmungsloses Mißverhältnis zwischen Eltern und Kindern als Folgeerscheinung eines fanatischen politischen Überzeugungsgrundsatzes ja ebenfalls schon kennengelernt: in der Hitlerzeit, wo die „Treue zum Staat“ unter Umständen tödlichen Verrat am eigenen Fleisch und Blut verlangte — und bewirkte. Wer weiß, zu welcher Verworrenheit und Verwegenbeiten sich Massenräusche, wie die Orgien der Jazzfans, einmal auswachsen mögen, wenn nur im kritischen Augenblick entsprechende Motive eingeschaltet werden? (Wobei — wohlverstanden — die Werte der Vitalität und die ästhetischen Werte, die im echten Jazz stecken, nicht geleugnet werden sollen.) Denn auch die leicht zu belächelnde Schwärmerei der Filmfans ist durchaus nicht ungefährlich; denn auch hier bekundet sich das alte Phänomen einer wiederum im Grunde „massenhaften“ Begeisterung, deren Intensität und fanatische „Einsatzbereitschaft“ (ja, diese allzu bekannte Nazi-Vokabel ist hier wieder einmal am Platze!) grotesk erscheint, gemessen an den Anlässen.

Der Jazz-Wahn und der Film-Wahn unserer Jugend, sie haben beide abermals ihre Vorbedingung in entsprechenden Haltungen der Erwachsenen. Auch den Eltern sind ja in vielen Fällen jene Kulte, die sich an Jazz und Film anknüpfen, Gegenstand einer inneren Teilnahme. Jedoch ist es auch da schwierig, persönliches Verschulden zu konstatieren. Auch da tritt „Schuld der Zeiten“ in Erscheinung. Und deren wesentlicher Kern liegt fraglos in dem Abbau des Religiösen.

Das Religiöse ist eine Urkraft, deren der Mensch sich niemals entäußern kann, ob er es will oder nicht. Es setzt sich durch, auch wenn alle seine gewohnten Zeichen verkümmern, alle seine ursprünglichen Gegenstände verhängt sind. Es leitet sich dann ab in ungeahnte Richtungen — aber es bleibt insgeheim lebendig, sei es auch in völlig pervertierter Form.

Unsere Zeit ist — pauschal gesehen — auf dem Wege, sich aus einer a-religiösen in eine anti-religiöse zu verwandeln. Es ist daher damit zu rechnen, daß sich die unterdrückten religiösen Impulse anderweitig geltend machen. Wenn wir die Zeiterscheinungen, von denen hier die Rede ist, unter diesem Aspekt betrachten, so ergeben sich die überraschendsten Aufschlüsse.

Psychoanalyse ersetzt die Beichte

Daß der Verlust an echtem Glauben in gleichem Maße Aberglauben produziert, weiß man längst; es bestätigt sich auch heute wieder allenthalben. Die Raserei der Jazzfans (Fälle, wie der gemeldete sind ja schon öfter vorgekommen) erinnert doch wohl deutlich an das mittelalterliche religiöse Flagellantentum und das Gehaben der St.Veitstänzer; die Symptome sind nahezu dieselben. Und die Mentalität der Filmfans mit ihrer Star-Anbetung muß durchaus schon als eine Perversion der Heiligenverehrung bezeichnet werden. Die Erscheinungen religiöser Selbstübersteigerung sind also geblieben. Aber ihre Inhalte sind auf die Ebene völliger Primitivität abgesunken. Man möchte sagen: Die Erscheinungen sind annähernd voraussetzungslos geworden — und das ist um so bedrohlicher, da sie sich leicht einmal wieder an weit gefährlicheren Anlässen entzünden können.

Nur nebenbei bemerkt sei noch jene offenkundigere Entsprechung modischer Geisteshaltung mit einer ursprünglich religiösen Übung, die besonders in den USA und in der Schweiz in wuchernder Blüte steht. Aus dem Glauben an den Segen der Beichte, an das Sakrament der Buße ist der massenhafte Aberglaube an die Allheilkraft der Psychoanalyse geworden (der begrenzte — therapeutische Wert dieser Methode soll mit dieser Feststellung keineswegs bestritten werden). Immer mehr nimmt dieser Aberglaube auch bei uns wahnhafte Formen an; immer mehr wächst sich der Andrang zu den Psychoanalytikern und Psychotherapeuten zu einem wahren Sport für allzu Sorgenfreie aus . . .

Nimmt man noch hinzu, daß nicht nur die religiösen Instinkte heute weithin pervertiert sind, sondern auch das andere ehemalige Stabilitätsmoment: die allgemeine, humane Bildung sich in einen durchaus unernsten Standesbegriff aufgelöst hat — davon zeugen die „höheren“ Starkulte der modernen Musikinterpretenverehrung, das obligate Festspielreisesport-Gesellschaftsspiel und die wahllose Autogrammjägerei — dann muß doch klarwerden, welcher Art die Beschaffenheit der Welt ist, die unserer Jugend von den Älteren bereitet wird und deren Impulse sie mit der verdoppelten Energie ihrer Wachstumsjahre aufnimmt — und ad absurdum führt.

Es ist ebenso sinnlos wie ungerecht, die Erklärung für alle möglichen unfaßbar scheinenden Jugendexzesse in den jungen Menschen selbst finden zu wollen. Es gibt da, bei Licht besehen, überhaupt nichts Unfaßbares oder schwer Erklärliches. Man muß die Ursachen nur an der richtigen Stelle suchen!



Quelle: Walter Abendroth, „Das große Kopfschütteln über die Jugend. Der moderne Aberglaube der Film- und Jazzfans,“ Die Zeit, Nr. 39, 27. September 1956, S. 15

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