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Der Harrison-Bericht (September 1945)

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IV. SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN

1. Da jetzt der größte Druck der Massenrepatriierung hinter uns liegt, ist es nicht unangemessen vorzuschlagen, dass in der nächsten und vielleicht schwierigeren Phase denjenigen, die am meisten und am längsten gelitten haben, die erste und nicht die letzte Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Besonders in der unmittelbar bevorstehenden Zeit sollten die Juden in Deutschland und Österreich das erste Anrecht auf das Gewissen der Menschen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien und des Militärs und des übrigen Personals haben, die sie mit ihrer Arbeit in Deutschland und Österreich repräsentieren.

2. Die Evakuierung aus Deutschland sollte das allerwichtigste Thema in Politik und Praxis sein.

(a) Unter Anerkennung der Tatsache, dass eine Repatriierung aus der Sicht aller Beteiligten höchst wünschenswert ist, sollte den Juden, die in ihre eigenen Länder zurückzukehren wünschen, dabei ohne weitere Verzögerung geholfen werden. Was auch immer an besonderen Maßnahmen vonnöten ist, um dies hinsichtlich der Aufnahmeländer oder der Zustimmung der Militär- oder anderer Behörden durchzuführen, sollte mit Energie und Entschlossenheit angegangen werden. Für den Fall, dass diese und andere Maßnahmen, die im Folgenden vorgeschlagen werden, nicht ergriffen werden, muss mit erheblichen inoffiziellen und nicht autorisierten Bevölkerungsbewegungen gerechnet werden, zu deren Verhinderung beträchtliche Gewalt eingesetzt werden müsste. Denn die Geduld der betroffenen Personen ist, meiner Meinung nach zu Recht, bald am Ende. Man kann nicht deutlich genug betonen, dass viele dieser Leute jetzt völlig verzweifelt sind, dass sie sich unter der deutschen Herrschaft daran gewöhnt haben, jedes nur mögliche Mittel zum Erreichen ihres Ziels einzusetzen, und dass die Angst vor dem Tod sie nicht zurückhält.

(b) Auch hinsichtlich derjenigen, die aus gutem Grund nicht in ihre Heimatländer zurückzukehren wünschen, muss ein rascher Plan ausgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang ist die Palästina-Frage zu behandeln. Da jetzt nicht mehr eine so große Anzahl involviert ist – und wenn irgendeine aufrichtige Anteilnahme daran besteht, was diese Überlebenden erlitten haben – sollte eine vernünftige Ausweitung oder Änderung des britischen White Paper von 1939 ohne allzu große Auswirkungen möglich sein. Für einige der europäischen Juden gibt es keine akzeptable oder auch nur würdige Lösung für ihre Zukunft außer Palästina. Diese Aussage beruht auf einer rein humanitären Grundlage, ohne Bezugnahme auf ideologische oder politische Erwägungen, was Palästina betrifft.

Meinem Kenntnisstand zufolge, der auf zuverlässigen Informationen beruht, werden am Ende des laufenden Monates (August 1945) die Einwanderungsgenehmigungen nach Palästina praktisch ausgeschöpft sein. Wie soll dann die Zukunft aussehen? Jedem, der die Konzentrationslager besichtigt und mit den verzweifelten Überlebenden gesprochen hat, muss es fast ungeheuerlich erschienen, in Betracht zu ziehen, die Tore Palästinas könnten bald geschlossen werden.

Die Jewish Agency of Palestine hat der britischen Regierung eine Petition übergeben, in der die Bereitstellung hunderttausender zusätzlicher Einwanderungsgenehmigungen gefordert wird. In einem Memorandum, das der Petition beiliegt, werden auf überzeugende Weise die momentanen Aufnahmekapazitäten Palästinas und der aktuell tatsächlich dort herrschende Mangel an Arbeitskräften dargelegt.

Während es Raum für Meinungsunterschiede hinsichtlich der genauen Anzahl solcher Genehmigungen geben mag, die unter den gegebenen Umständen als vernünftig angesehen werden könnte, steht es außer Frage, dass diese Forderung viel zu einer tragbaren Lösung für die Zukunft der Juden beitragen würde, die noch in Deutschland und Österreich sind und sogar für andere vertriebene Juden, die entweder nicht wünschen, dort zu bleiben oder in die Länder ihrer Nationalität zurückzukehren, wenn ihr denn nachgegeben würde.

Keine andere Angelegenheit ist darum aus Sicht der Juden in Deutschland und Österreich und an anderen Orten, die den Horror der Konzentrationslager erfahren haben, so wichtig wie die Entscheidung der Palästina-Frage.

Dr. Hugh Dalton, ein prominentes Mitglied der neuen britischen Regierung, hat angeblich auf dem Labour-Parteitag im Mai 1945 gesagt:

„Diese Partei hat festgelegt und noch im vergangenen April wiederholt, dass es dieses Mal mit Blick auf die unaussprechlichen Schrecken, die den Juden in Deutschland und in anderen besetzten Ländern in Europa zugefügt worden sind, moralisch falsch und politisch nicht zu verteidigen ist, jetzt Hindernisse für die Einreise nach Palästina aufzubauen für alle Juden, die dorthin möchten...

Wir haben auch klar zum Ausdruck gebracht, dass dies keine Angelegenheit ist, die als eine angesehen werden sollte, für die die britische Regierung alleine verantwortlich ist. Aber wenn sie im internationalen Bereich zum Thema wird, wie viele andere, ist es unverzichtbar, dass eine enge Abstimmung und Kooperation zwischen der britischen, amerikanischen und sowjetischen Regierung besteht, insbesondere, wenn wir eine sichere Ansiedlung in Palästina und in den benachbarten Ländern erreichen wollen...“

Wenn dies die Sichtweise der neuen Regierung in Großbritannien wiedergibt, wäre es sicherlich nicht unangemessen für die Regierung der Vereinigten Staaten, ihr Interesse an und ihre Unterstützung für irgendeine gerechte Lösung der Frage zum Ausdruck zu bringen, die es einer vertretbaren Zahl von verfolgten Juden aus Europa, die jetzt in jeder Hinsicht heimatlos sind, möglich machen würde, sich in Palästina niederzulassen. Das ist ihr Wunsch, und dieser wird wiederum erstrebenswert durch die allgemein akzeptierte Politik, Familien zu erlauben, sich zu vereinigen oder wiederzuvereinigen.

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