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Der Harrison-Bericht (September 1945)

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II. BEDÜRFNISSE DER JUDEN

Während es unmöglich ist, die Zahl der Juden genau anzugeben, die sich momentan in dem Teil Deutschlands aufhält, der nicht unter russischer Besatzung ist, deutet alles auf die Tatsache hin, dass es sich um eine kleine Zahl handelt, die Obergrenze sind wahrscheinlich hunderttausend. Einige informierte Personen behaupten sogar, die Zahl sei erheblich kleiner. Die größten Gruppen nach Nationalitäten sind Polen, Ungarn, Rumänen, Deutsche und Österreicher.

Das erste und einfachste Bedürfnis dieser Leute ist eine Anerkennung ihres momentanen Status’, und damit meine ich ihren Status als Juden. Die meisten von ihnen haben Jahre in den schlimmsten Konzentrationslagern verbracht. In vielen Fällen sind sie, auch wenn das ganze Ausmaß noch nicht zu überblicken ist, die einzigen Überlebenden ihrer Familie und viele mussten die Höllenqual erleiden, den Tod ihrer Liebsten mitanzusehen. Verständlicherweise ist daher ihr gegenwärtiger Zustand, sowohl physisch als auch mental, weitaus schlimmer als derjenige anderer Gruppen.

Während die politischen Leitlinien von SHAEF (jetzt Combined Displaced Persons Executive) früher verfolgte Personen, inklusive Angehörige feindlicher und ehemals feindlicher Nationalität, als eine der besonderen Kategorien von Displaced Persons anerkannt haben, besteht die allgemeine Praxis bisher darin, sich nur an der Nationalität zu orientieren. Während es zugegebenermaßen normalerweise nicht erstrebenswert ist, bestimmte rassische oder religiöse Gruppen von ihrer Nationalitätenkategorie auszunehmen, sieht die schlichte Wahrheit so aus, dass die Nazis genau dies so lange gemacht haben, dass dadurch eine Gruppe mit besonderen Bedürfnissen geschaffen wurde. Die Juden sind als Juden (nicht als Angehörige ihrer Nationalität) auf weitaus schlimmere Weise zu Opfern gemacht worden als die nicht-jüdischen Mitglieder derselben oder andere Nationalitäten.

Wenn sie jetzt nur als Mitglieder bestimmter Nationalitäten angesehen werden, bedeutet das im Ergebnis, dass ihren anerkanntermaßen größeren Bedürfnissen nicht Rechnung getragen werden kann, weil das, so wird argumentiert, eine Vorzugsbehandlung darstellen würde und dies zu Problemen mit dem nicht-jüdischen Anteil dieser bestimmten nationalen Gruppe führen würde.

Es besteht also eindeutig eine unrealistische Umgangsweise mit dem Problem. Eine Weigerung, die Juden als solche anzuerkennen, hat in dieser Situation zur Folge, die Augen vor ihrer vorhergehenden und barbarischeren Verfolgung, aufgrund derer sie bereits zu einer eigenen Gruppe mit größeren Bedürfnissen geworden sind, zu verschließen.

Ihr zweites großes Bedürfnis kann nur dargelegt werden vor dem Hintergrund dessen, was ich als

ihre Wünsche bezüglich ihrer künftigen Aufenthaltsorte herausgefunden habe.

(1) Aus offensichtlichen Gründen, die keiner weiteren Erklärung bedürfen, wollen die meisten Juden Deutschland und Österreich so schnell wie möglich verlassen. Das ist ihre erster und größter ausdrücklicher Wunsch, und während es in diesem Bericht notwendigerweise um andere Bedürfnisse in der gegenwärtigen Situation geht, begegnen viele der Betroffenen selbst anderen Vorschlägen oder Plänen zu ihrer Unterstützung mit Sorge, weil sie die Möglichkeit fürchten, die Aufmerksamkeit könnte auf diese Weise von der allerwichtigsten Sache abgelenkt werden: der Evakuierung aus Deutschland. Ihr Wunsch, Deutschland zu verlassen, ist ein sehr dringender. Das Leben, das sie während der letzten zehn Jahre geführt haben, ein Leben voller Angst und Umherirren und physischer Folter, hat sie ungeduldig werden lassen, was Verzögerungen angeht. Sie wollen jetzt nach Palästina evakuiert werden, genauso wie andere nationale Gruppen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. Der Vorstellung, untätig und unter schlechten Bedingungen monatelang in einem deutschen Lager auszuharren, bis gemächlich eine Lösung für sie gefunden wird, stehen sie nicht gerade mit Wohlwollen gegenüber.

(2) Einige haben den Wunsch, in ihre Heimatländer zurückzukehren, aber was das betrifft, gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den Nationalitäten. Sehr wenige polnischen oder baltischen Juden wollen in ihre Heimatländer zurückkehren; größere Prozentanteile der ungarischen und rumänischen Gruppen möchten zurückkehren, auch wenn sich viele beeilen hinzuzufügen, dies nur vorübergehend zu wollen, um nach Verwandten zu suchen. Einige der deutschen Juden, insbesondere solche aus Mischehen, ziehen es vor, in Deutschland zu bleiben.

(3) Hinsichtlich möglicher Wiederansiedlungsorte für diejenigen, die staatenlos sind oder die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren möchten, ist Palästina eindeutig vor allen anderen Lösungen die erste Wahl. Viele haben inzwischen Verwandte dort, während andere, die in ihren Heimatländern jahrelange Intoleranz und Verfolgung erfahren haben, der Auffassung sind, dass sie nur in Palästina willkommen geheißen werden und dort Frieden und Ruhe finden und eine Möglichkeit zum Leben und Arbeiten bekommen werden. Im Fall der polnischen und der baltischen Juden beruht der Wunsch, nach Palästina zu gehen, in einem Großteil der Fälle auf einer Liebe zum Land und Zuneigung zum zionistischen Ideal. Es trifft allerdings auch zu, dass viele nach Palästina auszuwandern wünschen, weil sie realisieren, dass ihre Chance, in den Vereinigten Staaten oder in anderen Länder der westlichen Hemisphäre Aufnahme zu finden, begrenzt, wenn nicht gar unmöglich ist. Was auch immer die Motive sein mögen, die sie bewegt, sich nach Palästina zu orientieren, ist es zweifellos richtig, dass die große Mehrheit der Juden, die sich momentan in Deutschland befinden, nicht in ihre Herkunftsländer zurückzukehren wünschen.

(4) Auch wenn Palästina eindeutig für die meisten die erste Wahl ist, ist es nicht das einzige mögliche Emigrationsziel, das genannt wird. Einige wünschen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, wo sie Verwandte haben – allerdings ist ihre Zahl nicht sehr groß -, andere nach England, in die Britischen Dominions oder nach Südamerika.

Insofern ist das zweite große Bedürfnis die umgehende Entwicklung eines Plans, so viele wie möglich derjenigen, die das wünschen, aus Deutschland und Österreich herauszuholen.

Abgesehen davon sind die Bedürfnisse der jüdischen Gruppe unter den Displaced Persons einfach zu benennen: Unter ihre physischen Bedürfnisse fallen Kleidung und Schuhe (die am dringendsten gebraucht werden), eine abwechslungsreichere und geschmackvollere Ernährung, Medikamente, Betten und Matratzen, Lesestoff. Die Kleidung für die Lager wird bei der deutschen Bevölkerung beschlagnahmt, und ob nicht genug aufgetrieben werden kann oder ob die deutsche Bevölkerung nicht willig ist oder nicht gezwungen wurde: Die Internierten sind besonders verbittert über den Zustand ihrer Kleidung, wenn sie sehen, wie gut die deutsche Bevölkerung immer noch angezogen ist. Die deutsche Bevölkerung ist heutzutage noch immer die am besten angezogene Bevölkerung in ganz Europa.

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