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Der Harrison-Bericht (September 1945)

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I. DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH

Ausgangslage

(1) Allgemein gesprochen leben viele jüdische Displaced Persons und andere möglicherweise Nicht-Repatriierbare drei Monate nach dem Sieg in Europa und sogar noch länger nach der Befreiung einzelner Gruppen bewacht hinter Stacheldrahtzäunen in diversen Lagern (die von den Deutschen für Zwangsarbeiter und Juden errichtet wurden), darunter einige der berüchtigtsten Konzentrationslager, unter beengten, oftmals unhygienischen und insgesamt trostlosen Bedingungen, in völliger Untätigkeit und ohne Möglichkeit, mit der Welt außerhalb des Lagers zu kommunizieren (außer heimlicherweise), wo sie ausharren und auf irgendein aufmunterndes Wort und eine Maßnahme zu ihren Gunsten warten.

(2) Während hinsichtlich der Gesundheit derjenigen, die das Programm von Aushungern und Verfolgung der Nazis überlebt haben, eine merkliche Verbesserung zu verzeichnen ist, gibt es viele mitleiderregende Fälle von Unterernährung unter den Hospitalisierten und der allgemeinen Bevölkerung der Lager. Die Sterberate seit der Befreiung ist hoch, wie zu erwarten war. Ein Armeegeistlicher, ein Rabbi, hat seit der Befreiung persönlich an 23.000 Beerdigungen (90 Prozent davon Juden) allein in Bergen-Belsen teilgenommen, eines der größten und barbarischsten Konzentrationslager, wo im Übrigen und trotz anhaltender gegenteiliger Berichte immer noch vierzehntausend Displaced Persons leben, darunter mehr als siebentausend Juden. In vielen Lagern und Zentren, einschließlich derjenigen mit schweren Fällen von Hungertod, besteht ein ausgeprägter und gravierender Mangel an nötigster medizinischer Versorgung.

(3) Auch wenn es einigen Lagerkommandanten trotz aller offensichtlichen Schwierigkeiten gelungen ist, für ihre Schützlinge Kleider irgendwelcher Art aufzutreiben, hatten viele der jüdischen Displaced Persons Ende Juli nichts anderes anzuziehen als ihren KZ-Häftlingskleidung – die noch am ehesten aussieht wie ein hässlicher Pyjama –, während andere zu ihrem Leidwesen gezwungen waren, deutsche SS-Uniformen zu tragen. Es ist fraglich, welche Kleider sie mehr hassen.

(4) Von wenigen erwähnenswerten Ausnahmen abgesehen, ist noch nichts in Gestalt eines Aktivitätsprogramms oder eines organisierten Versuchs im Hinblick auf eine Resozialisierung in Angriff genommen worden, und die Internierten, denn als solche muss man sie ansehen, haben wenig mehr zu tun, als über ihre Misere und ihre ungewisse Zukunft nachzugrübeln, und, was noch bedauerlicher ist, Vergleiche anzustellen zwischen ihrer Behandlung „unter den Deutschen“ und „nach der Befreiung“. Abgesehen von der Gewissheit, dass ihnen keine Gaskammern, keine Folter oder andere gewalttätige Todesarten mehr drohen, sehen sie wenig Veränderung – die es auch nicht gibt. Die geistige und seelische Verfassung derjenigen, die entweder staatenlos sind oder die nicht in die Länder ihrer Nationalität zurückkehren möchten, ist sehr schlecht. Sie haben die große Aktivität und die Effizienz mitbekommen, mit der Menschen in ihre Heimat zurückgeführt worden sind, aber sie hören oder sehen nichts Vergleichbares an Plänen für sie, und infolgedessen fragen sie sich und erkundigen sich oft, was „Befreiung“ eigentlich bedeutet. Diese Situation ist dort erheblich zugespitzt, wo sie – was oft der Fall ist – in der Lage sind, aus ihren überfüllten und kahlen Quartieren herauszuschauen und zusehen können, wie die deutsche Zivilbevölkerung besonders in den ländlichen Gebieten allem Anschein nach in ihren eigenen Häusern ein normales Leben führt.

(5) Die brennendste Sorge dieser Opfer der Nazis und des Krieges gilt ihren Angehörigen – ihren Frauen, Ehemännern, Eltern, Kindern. Die meisten von ihnen sind seit drei, vier oder fünf Jahren von ihren Nächsten getrennt, und sie können nicht verstehen, warum die Befreier nicht sofort einen organisierten Versuch unternommen haben, Familienverbände wieder zusammenzuführen. Bei dem Großteil der sehr wenigen Schritten, die in diese Richtung bisher unternommen worden sind, handelt es sich um informelle Aktionen, von den Displaced Persons selbst durchgeführt mit Hilfe von engagierten Armeegeistlichen, oftmals Rabbis, und dem American Joint Distribution Committee. Die Verlesung von Namen und Aufenthaltsorten im Rundfunk, die die Psychological Warfare Division in Luxemburg organisiert hat, war hilfreich, auch wenn der Mangel an Empfangsgeräten die Wirksamkeit des Programms beeinträchtigt hat. Selbst dort, wo Informationen über Verwandte, die in anderen Lagern in Deutschland leben, erhalten worden sind – und das ist durchaus passiert –, hängt es von der persönlichen Einstellung und Bereitschaft des Lagerkommandanten ab, ob die Erlaubnis oder Hilfe gewährt wird, der Information nachzugehen. Einige Lagerkommandanten sind diesbezüglich sehr unnachgiebig, während andere jede nur mögliche Hilfe bereitstellen, um Familien zusammenzuführen.

(6) Es ist schwierig, die Nahrungssituation gerecht zu beurteilen, weil man dabei im Kopf behalten muss, dass Lebensmittel im Allgemeinen knapp sind, und sich die Situation mit dem kommenden Winter wahrscheinlich noch verschärfen wird. Andererseits muss man bei dem Versuch, die Faktenlage zu beschreiben, die Frage aufwerfen, wieviel länger viele dieser Menschen, insbesondere diejenigen, die über eine so lange Zeitspanne hinweg Verfolgung erdulden mussten und fast den Hungertod gestorben sind, auf der Grundlage einer Kost überleben können, die hauptsächlich aus Brot und Kaffee besteht, ungeachtet des Kaloriengehalts. In vielen Lagern bestanden die 2000 Kalorien zu 1250 Kalorien aus einem schwarzen, feuchten und extrem unappetitlichen Brot. Ich habe den deutlichen Eindruck gewonnen, der durch umfangreiche, glaubwürdige Informationen untermauert wurde, dass weite Teile der deutschen Bevölkerung – wiederum vor allem in den ländlichen Gebieten – eine abwechslungsreichere und schmackhaftere Ernährung zu ihrer Verfügung haben als die Displaced Persons. Die Lagerkommandanten meldeten ihren Bedarf dem deutschen Bürgermeister, und viele schienen sich mit dem zufriedenzugeben, was dieser mit der Versicherung ablieferte, es sei das Beste, das verfügbar war.

(7) Viele der Gebäude, in denen die Displaced Persons untergebracht sind, taugen eindeutig nicht für den Gebrauch im Winter, und überall wird die große Sorge über die Aussicht auf einen vollständigen Mangel an Brennmaterial geäußert. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sich bei Wintereinbruch annähernd eine Million Displaced Persons in Deutschland und Österreich aufhalten. In vielen Gebieten sind die Aussichten alles andere als rosig, was Unterkunft, Ernährung und Brennmaterial angeht.

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