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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Auszüge aus Die Vernunft in der Geschichte (1837)

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Die Versöhnung ist, wie schon bemerkt worden, zunächst an sich vollbracht, aber damit muß sie auch für sich vollbracht werden. Deswegen muß das Prinzip mit dem ungeheuersten Gegensatz anfangen; weil die Versöhnung absolut ist, muß es der abstrakteste Gegensatz sein. Dieser Gegensatz hat zu einer Seite, wie wir gesehen haben, das geistige Prinzip zunächst als geistliches, auf der andern Seite die rohe, wilde Weltlichkeit. Die erste Geschichte ist die Feindschaft beider, die zugleich zusammengebunden sind, so daß das geistliche Prinzip von der Weltlichkeit anerkannt und diese dennoch ihm nicht angemessen ist, während sie doch eingestandenermaßen ihm angemessen sein soll. Die zunächst geistverlassene Weltlichkeit wird von der geistlichen Macht unterdrückt; und die erste Form der Obrigkeit des geistigen Reiches ist so, daß es selbst in die Weltlichkeit übergeht, damit seine geistige Bestimmung, aber nun auch seine Macht verliert. Aus dem Verderben beider Seiten geht dann das Verschwinden der Barbarei hervor, und der Geist findet die höhere Form, die allgemein seiner würdig ist, die Vernünftigkeit, die Form des vernünftigen, des freien Gedankens. Der in sich zurückgedrängte Geist faßt sein Prinzip und produziert es in sich in seiner freien Form, in der Form des Gedankens, in denkender Gestalt, und so ist er dann fähig, mit der äußerlichen Wirklichkeit überhaupt zusammenzugehen, in dieser sich zu insinuieren und aus der Weltlichkeit heraus das Prinzip des Vernünftigen zu realisieren.

Das geistige Prinzip kann nur, indem es seine objektive Form, die denkende, gewonnen hat, über die äußerliche Wirklichkeit wahrhaft übergreifen; nur so kann der Zweck des Geistigen an dem Weltlichen realisiert werden. Es ist die Form des Gedankens, was die gründliche Versöhnung zustande bringt: die Tiefe des Gedankens ist die Versöhnerin. Diese Tiefe des Gedankens wird dann in der Weltlichkeit zum Vorschein kommen, weil diese die einzelne Subjektivität der Erscheinung zu ihrem Felde hat, in dieser Subjektivität aber das Wissen hervorgeht, und die Erscheinung in die Existenz fällt. So ist also das Prinzip der Versöhnung von Kirche und Staat aufgetreten, in dem die Geistlichkeit in der Weltlichkeit ihren Begriff und ihre Vernünftigkeit hat und findet. So verschwindet der Gegensatz von Kirche und sogenanntem Staat; dieser steht der Kirche nicht mehr nach und ist ihr nicht mehr untergeordnet, und die Kirche behält kein Vorrecht; das Geistige ist dem Staate nicht mehr fremd. Die Freiheit hat die Handhabe gefunden, ihren Begriff wie ihre Wahrheit zu realisieren. So ist es geschehen, daß durch die Wirksamkeit des Gedankens, allgemeiner Gedankenbestimmungen, die dieses konkrete Prinzip, die Natur des Geistes, zu ihrer Substanz haben, das Reich der Wirklichkeit, dieser konkrete Gedanke, der substanziellen Wahrheit gemäß herausgebildet worden ist. Die Freiheit findet in der Wirklichkeit ihren Begriff und hat die Weltlichkeit zu einem objektiven System eines in sich organisch gewordenen Dieses ausgebildet. Der Gang dieser Überwindung macht das Interesse der Geschichte aus, und der Punkt des Fürsichseins der Versöhnung ist dann im Wissen: hier ist die Wirklichkeit umgebildet und rekonstruiert. Dies ist das Ziel der Weltgeschichte, daß der Geist sich zu einer Natur, einer Welt ausbilde, die ihm angemessen ist, so daß das Subjekt seinen Begriff von Geist in dieser zweiten Natur, in dieser durch den Begriff des Geistes erzeugten Wirklichkeit findet und in dieser Objektivität das Bewußtsein seiner subjektiven Freiheit und Vernünftigkeit hat. Das ist der Fortschritt der Idee überhaupt; und dieser Standpunkt muß für uns in der Geschichte das Letzte sein. Das Nähere, daß es überhaupt vollführt ist, das ist die Geschichte; daß noch Arbeit vorhanden ist, gehört der empirischen Seite an. Wir haben in der Betrachtung der Weltgeschichte den langen Weg zu machen, der eben übersichtlich angegeben ist und auf dem sie ihr Ziel realisiert. Doch Länge der Zeit ist etwas durchaus Relatives, und der Geist gehört der Ewigkeit an. Eine eigentliche Länge gibt es für ihn nicht. Dies ist die fernere Arbeit, daß dieses Prinzip sich entwickle, sich ausbilde, daß der Geist zu seiner Wirklichkeit komme, zum Bewußtsein seiner in der Wirklichkeit.




Quelle: Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hg. Johannes Hoffmeister. Fünfte, abermals verbesserte Aufgabe. Hamburg: Verlag von Felix Meiner, 1955, S. 25-35, 242-44, 249-51, 253-57.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Felix Meiner Verlags, Hamburg.

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