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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Auszüge aus Die Vernunft in der Geschichte (1837)

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Die erste Gestalt des Geistes ist daher die orientalische. Dieser Welt liegt das unmittelbare Bewußtsein, die substanzielle Geistigkeit zugrunde, das Wissen nicht mehr der besondern Willkür, sondern das Aufgehen der Sonne, das Wissen eines wesentlichen Willens, der für sich selbständig, unabhängig ist und zu dem sich die subjektive Willkür zunächst als Glaube, Zutrauen, Gehorsam verhält. Konkreter gefaßt, ist es das patriarchalische Verhältnis. In der Familie ist das Indviduum ein Ganzes und ist zugleich ein Moment jenes Ganzen, lebt darin in einem gemeinsamen Zweck, der zugleich als gemeinsamer seine eigentümliche Existenz hat und darin auch Gegenstand für das Bewußtsein der Individuen ist. Dies Bewußtsein ist vorhanden in dem Chef der Familie, der der Wille ist, das Wirken für den gemeinsamen Zweck, der für die Individuen sorgt, ihr Tun auf diesen Zweck richtet, sie erzieht und in der Angemessenheit des allgemeinen Zweckes erhält. Sie wissen und wollen nicht über diesen Zweck und über seine Präsenz in dem Chef und dessen Willen hinaus. Dies ist notwendig die erste Weise des Bewußtseins eines Volkes.

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Die zweite Gestalt könnte mit dem Jünglingsalter verglichen werden; sie umfaßt die griechische Welt. Charakteristisch an ihr ist, daß hier eine Menge von Staaten sich hervortun. Es ist das Reich der schönen Freiheit; die unmittelbare Sittlichkeit ist es, in der sich hier die Individualität entwickelt. Das Prinzip der Individualität geht hier auf, die subjektive Freiheit, aber eingebettet in die substanzielle Einheit. Das Sittliche ist wie in Asien Prinzip, aber es ist die Sittlichkeit, welche der Individualität eingeprägt ist und somit das freie Wollen der Individuen bedeutet. Die beiden Extreme der orientalischen Welt sind hier vereint: subjektive Freiheit und Substanzialität; das Reich der Freiheit ist vorhanden, nicht der ungebundenen, natürlichen, sondern der sittlichen Freiheit, die einen allgemeinen Zweck hat, nicht die Willkür, das Besondere, sondern den allgemeinen Zweck des Volkes selbst sich vorsetzt, ihn will, von ihm weiß. Aber es ist nur das Reich der schönen Freiheit, die mit dem substanziellem Zweck in natürlicher, unbefangener Einheit ist. Es ist die Vereinigung des Sittlichen und des subjektiven Willens so, daß die Idee mit einer plastischen Gestalt vereinigt ist: sie ist noch nicht abstrakt für sich auf der einen Seite, sondern unmittelbar mit dem Wirklichen verbunden, wie in einem schönen Kunstwerke das Sinnliche das Gepräge und den Ausdruck des Geistigen trägt. Es ist die unbefangene Sittlichkeit, noch nicht Moralität; sondern der individuelle Wille des Subjekts steht in der unmittelbaren Sitte und Gewohnheit des Rechten und der Gesetze. Das Individuum ist daher in unbefangener Einheit mit dem allgemeinen Zweck. Dieses Reich ist demnach wahre Harmonie, die Welt der anmutigsten, aber vergänglichen, schnell vorübereilenden Blüte, die heiterste, aber in sich unruhigste Gestalt, indem sie selbst durch die Reflexion ihre Gediegenheit verkehren muß; es ist, weil jene beiden Prinzipien nur in unmittelbarer Einheit sind, der höchste Widerspruch in sich selbst. Im Orient ist der Widerspruch an die Extreme verteilt, die in Konflikt miteinander kommen. In Griechenland sind sie vereint; aber so wie sie in Griechenland sich zeigt, kann ihre Vereinigung nicht bestehen. Denn die schöne Sittlichkeit ist nicht die wahrhafte, ist nicht aus dem Kampfe der subjektiven Freiheit herausgeboren, die sich wiedergeboren hätte, sondern ist die erste subjektive Freiheit und hat also noch den Charakter natürlicher Sittlichkeit, statt daß sie heraufgeboren wäre zu der höhern, reinern Gestalt allgemeiner Sittlichkeit. Diese Sittlichkeit wird so die Unruhe sein, die sich durch sich zerstreut; und die Reflexion dieser Extreme in sich wird den Untergang dieses Reiches herbeiführen. So folgt die Herausbildung einer weitern höhern Form, die die dritte Gestalt ausmacht. In der griechischen Welt ist die beginnende Innerlichkeit, die Reflexion überhaupt als ein Moment vorhanden; und das nächste ist, daß diese innere Reflexion, der Gedanke, die Wirksamkeit des Gedankens sich Luft macht, hervordringt und ein Reich eines allgemeinen Zweckes schafft.

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