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Kindheit in Rostock an der Ostsee, aus Sicht der Aufklärung und der rationalistischen Medizinwissenschaften (1807)

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Wenn gleich körperliche Züchtigungen nicht unter allen Umständen bey der Erziehung vermieden werden können: so ist doch wohl nicht zu läugnen, daß sie häufig übertrieben werden. In vielen hiesigen Familien weiß man die Kinder auch ohne Schläge zum Gehorsam, zur Folgsamkeit und Ordnung zu bringen: und wer sollte sich davon nicht überzeugen, daß man durch ein freundliches Benehmen, durch Geduld und vernünftige Behandlung, wovon ich einen strafenden Ernst und andere mehr zur Humanität führende Besserungsmittel nicht ausschließe, sich weit sicherer das Zutrauen der Kinder erwerben und ungleich mehr ausrichten kann, als durch Schläge? Gleichwohl denken so nur die Gebildeten und Aufgeklärten unter uns. Bey weitem der größere Theil von Aeltern, und selbst auch einige Lehrer, die sich mit Erziehung und Unterweisung der Kinder beschäfftigen, glauben noch, ohne dieses Mittel nicht fertig werden zu können; und in manchen Familien aus den unkultivirten Klassen gehören noch die Schläge zur Tagesordnung. Aber auch hier habe ich fast immer die Wahrheit bestätigt gefunden, daß Schläge nur erbittern, oder höchstens einen erzwungenen Gehorsam bewirken, nicht aber wirklich bessern und die Humanität unter den Menschen befördern. Ja nicht selten sind mir Fälle aufgestoßen, wo gewiß die Schläge nicht nur ganz am unrechten Orte angebracht waren, sondern auch noch überdem mit so barbarischer Grausamkeit selbst von den Aeltern eine solche Strafe vollzogen wurde, daß die körperliche Gesundheit der Kinder darunter leiden mußte. Dergleichen Vorfälle seltener zu machen und die Aeltern von einer so strafbaren Handlungsweise zurückzubringen, steht allein in der Gewalt der Prediger, die sich durch freundschaftliche Unterhaltung über solche und ähnliche Gegenstände, oder durch einen hierauf sich beziehenden Kanzelvortrag und durch eigenes Beyspiel unstreitig weit verdienter um ihre Gemeinden machen können, als durch das ewige Dogmatisiren und Polemisiren.




Quelle: A.F. Nolde, Medicinisch-anthropologische Bemerkungen über Rostock und seine Bewohner. Band I. Erfurt, 1807, S. 92-126.

Abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700-1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 227-41.

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