GHDI logo

Kindheit in Rostock an der Ostsee, aus Sicht der Aufklärung und der rationalistischen Medizinwissenschaften (1807)

Seite 4 von 8    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Ich habe schon angemerkt, daß viele Aeltern aus den untern Ständen ihre Kinder ohne Aufsicht auf den Straßen herumlaufen lassen: wie vielen Gefahren sie aber dabey ausgesetzt sind, wie leicht ihre physische Organisation und selbst ihre moralische Bildung darunter leiden kann, muß einem jeden nachdenkenden Menschen einleuchten. Es ist also unrecht, daß jene Aeltern auf diesen Punkt nicht aufmerksamer sind, und daß sie von den Geistlichen nicht genug daran erinnert werden. Aber auch selbst die vornehmern und reichern Aeltern sind hierin noch zu nachlässig und unbesorgt. Man verläßt sich häufig zu sehr auf die Amme oder Wärterin, und bekümmert sich selbst zu wenig um die kleinern und größern Kinder, weil man besorgt, daß die häuslichen Geschäffte darunter leiden werden, oder daß man auf alle Vergnügungen außer dem Hause Verzicht thun müsse. Mir sind freylich manche rühmliche Ausnahmen hiervon bekannt; es giebt auch bey uns Mütter, die den ganzen Umfang ihrer Pflichten selbst in dieser Beziehung zu erfüllen bemüht sind, und sich nur ungern in dem äußersten Nothfall von ihren Kindern trennen. So sehr sie deshalb zu loben sind, so fehlen doch auch sie bisweilen hierin auf eine doppelte Art. Entweder sind sie zu ängstlich und zu besorgt für die Gesundheit ihrer Kinder; entziehen ihnen die freye Luft, wornach jedes Kind instinktmäßig strebt, weil sie von jedem rauhen Lüftchen gleich die gefährlichsten Folgen befürchten; verzärteln die Kinder bey jeder auch noch so unbedeutenden Unpäßlichkeit noch mehr, quälen sie mit Arzneyen u. s. w. Aber dieses ist eine Methode, bey der sie gerade die Kinder um ihre Gesundheit bringen, und zu Treibhauspflanzen bilden, die in der Folge der Gesellschaft zur Last fallen. Oder sie können sich eben so wenig von dem Vergnügen, als von ihren geliebten Kindern trennen, nehmen sie also überall mit in Gesellschaften, Assembleen, Konzerte, Schauspiele, Bälle und Maskeraden, um sie nur immer unter Aufsicht zu haben; erwägen aber dabey nicht, wie wenig sie im Stande sind, diesen guten Vorsatz auszuführen, und wie leicht ihre Kinder bey solchen Gelegenheiten nicht nur sittlich verderben, sondern auch an ihrem Körper beschädigt werden, fallen, sich erhitzen und erkälten können, besonders wenn man auf Bällen selbst kleinen Kindern den Zutritt zu jedem Tanze verstattet.

So sehr indessen auch solche Mütter fehlen mögen, so fehlen sie doch aus guter Absicht, und verrathen wenigstens durch ihr Benehmen, daß sie es wissen, wie nothwendig den Kindern eine gute Aufsicht ist. Davon scheinen im Gegentheile jene kaum etwas zu ahnen, die ihre Kinder so ganz den Ammen und Wärterinnen überlassen, oder sie haben wohl gar das Pflichtgefühl gegen sie schon erstickt. Nicht nur sehen und hören die Kinder in solcher Gesellschaft so manches, dessen Kenntniß sie denn bey irgend einer Gelegenheit, zur größten Verwunderung der Aeltern verrathen, sondern besonders ist es noch in physischdiätetischer Hinsicht nicht selten der Fall, daß die Kinder von solchen Personen mit allerley unschicklichen Speisen gefüttert, oder gar gestoßen, geschlagen und übel behandelt, auch wohl sich selbst überlassen werden, während die Amme oder Wartfrau ihrem Vergnügen nachgeht. Da geschieht es denn aber nicht selten, daß die Aeltern ihr Kind, welches sie gesund verließen, nun krank wieder vorfinden und den Arzt rufen müssen, der nur selten die wahre Ursache der Krankheit erfährt, wenn seine Familienkenntniß ihn nicht auf den Verdacht derselben leitet.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite