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Ansichten eines protestantischen Pastors über das Partnerwerbung und Ehe unter besitzenden Bauern und eigentumslosen Köttern in Westfalen (1786)

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[ . . . ] Die Ursachen dieser so früh und so starck sich entwicklenden Triebe sind in der Nähe. Der Kötter schläft mit seinen Kindern nicht blos in einer und eben derselben kleinen Kammer, sondern selbst in einem Bette, auch dann noch, wenn sie schon mannbar werden und sind. Sie sind Zeugen ehelicher Vertraulichkeiten, die nicht geheim genug gehalten werden können, und Zuhörer von Gesprächen, die erhitzen müßen. Die natürliche Folge ist Speculation, den erwachten Tyrannen zu befriedigen, und fehlts an Gelegenheit dies durch natürliche Mittel zu thun; so werden stumme Sünden erfunden, denn die Noth ist erfinderisch. Vermiethen sich Kötterkinder bey dem Bauer, so kommen sie mit mehrern losen Gesinde zusammen, eßen beßer und substantiöser, als zu Hause, und diese beßere Nahrungsmittel zu unreinen Gesprächen bey einem von Grundsätzen leeren Hertzen muß allen durch den Schul- und Religionsunterricht noch hineingesäeten Saamen vollends ersticken. Ungesehen hab ich oft Unterredungen zwischen jungen Leuten zugehört, die auf Taiti oder Kamschatka nicht garstiger seyn können, und die Unverschämtheit geiler Landmädchen mag von Bordelhuren noch übertroffen werden.

Es ist ein Kunstgrif in der bäurischen Erziehung, dem heranwachsenden Mädchen den Ehrgeitz als einen Riegel wider die Lüste beyzubringen. Die Tochter des Bauern ist vertraut mit dem Gesinde, und behandelt es als seines gleichen. Und doch bleiben sie sich beyderseits des Abstandes bewußt, den sie sich wirklich größer denken, als er ist. [ . . . ] Ist die Bauerntochter nicht Anerbin; so darf sie, trotz aller Sittenlosigkeit, nicht erwarten, ihrem Wunsche und Stande gemäß gesucht zu werden, wenn ihre Ehre nur einigermaßen befleckt ist; denn die Mannspersonen sind nicht allein spröde, sondern auch delikat. Dies hält sehr zurücke, und ist ein Beweis, daß moralische Motiven viel vermögen, wenn der Volksgeist sie begünstigt. Hat jedoch ein verunglücktes Köttermädchen zufälliger Weise etwas im Vermögen, oder ist die deflorirte Bauertochter Anerbin des Colonats; so wirds so genau nicht genommen.



Quelle: Johann Mortiz Schwager, „Über den Ravensberger Bauern“, Westphälisches Magazin zur Geographie, Historie und Statistik. Herausgegeben von P.F. Weddigen. Bd. 2 (1786), Heft 5, S. 55-58.

Abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700-1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 78-81.

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