GHDI logo

Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werthers (1774)

Seite 12 von 14    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Wehe dem! der zusehen und sagen könnte: die Thörinn! Hätte sie gewartet, hätte sie die Zeit wirken lassen, die Verzweifelung würde sich schon gelegt, es würde sich schon ein anderer sie zu trösten vorgefunden haben. Das ist eben, als wenn einer sagte: der Thor, stirbt am Fieber! hätte er gewartet bis seine Kräfte sich erhohlt, seine Säfte sich verbessert, der Tumult seines Blutes sich geleget hätten: alles wäre gut gegangen, und er lebte bis auf den heutigen Tag.

Albert, dem die Vergleichung noch nicht anschaulich war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich hätte nur von einem einfältigen Mädchen gesprochen; wie aber ein Mensch von Verstande, der nicht so eingeschränkt sey, der mehr Verhältnisse übersehe, zu entschuldigen seyn möchte, könne er nicht begreifen. – Mein Freund, rief ich aus, der Mensch ist Mensch, und das bißchen Verstand, das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wüthet und die Gränzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr – Ein andermal davon, sagte ich, und griff nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll, – und wir gingen aus einander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.


am 15. Aug.

Es ist doch gewiß, daß in der Welt den Menschen nichts nothwendig macht, als die Liebe. Ich fühl’s an Lotten daß sie mich ungerne verlöhre, und die Kinder haben keinen andern Begriff, als daß ich immer morgen wieder kommen würde. Heute war ich hinaus gegangen, Lottens Clavier zu stimmen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein Mährchen, und Lotte sagte selbst, ich sollte ihnen den Willen thun. Ich schnitt ihnen das Abendbrod, das sie nun so gern von mir als von Lotten annehmen und erzählte ihnen das Hauptstückchen von der Prinzessinn die von Händen bedient wird. Ich lerne viel dabey das versichre ich dich, und ich bin erstaunt was es auf sie für Eindrücke macht. Weil ich manchmal einen Incidentpunct erfinden muß, den ich beym zweytenmal vergesse, sagen sie gleich, das vorigemal wär’ es anders gewesen, so daß ich mich jetzt übe, sie unveränderlich in einem singenden Sylbenfall an einem Schnürchen weg zu recitiren. Ich habe daraus gelernt wie ein Autor durch eine zweyte veränderte Ausgabe seiner Geschichte, und wenn sie poetisch noch so besser geworden wäre, nothwendig seinem Buche schaden muß. Der erste Eindruck findet uns willig und der Mensch ist gemacht daß man ihn das abentheuerlichste überreden kann; das haftet aber auch gleich so fest, und wehe dem, der es wieder auskratzen und austilgen will!


am 18. Aug.

Mußte denn das so seyn, daß das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elendes würde?

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite