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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Kritik der Verfassung Deutschlands”, unveröffentlichtes Manuskript (1800-1802)

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I. Begriff des Staats.

Eine Menschenmenge kann sich nur einen Staat nennen, wenn sie zur gemeinschafftlichen Vertheidigung der Gesammtheit ihres Eigenthums verbunden ist; es versteht sich hiebey eigentlich von selbst, aber es ist nöthig angemerkt zu werden, daß diese Verbindung nicht bloß die Absicht hat, sich zu vertheidigen, sondern daß sie, die Macht und Gelingen mag seyn welches es will, durch wirkliches Wehren sich vertheidigt; denn es wird niemand laügnen können, daß Deutschland zu seiner gemeinschafftlichen Vertheidigung nach Gesetzen und Worten vereinigt ist; [ . . . ] denn das Eigenthum und seine Vertheidigung durch eine Staatsverbindung sind Dinge die sich ganz und gar auf Realität beziehen. [ . . . ]

Daß eine Menge einen Staat bilde, dazu ist nothwendig, daß sie eine gemeinsame Wehre und Staatsgewalt bilde; [ . . . ] die besondere Verfassung ist dafür, [ . . . ] gleichgültig. [ . . . ] und wir müssen in der Betrachtung beydes von einander trennen, dasjenige, was nothwendig ist, daß eine Menge ein Staat und eine gemeinschafftliche Gewalt sey, und dasjenige, was nur eine besondere Modification dieser Gewalt ist, [ . . . ].

Diese Unterscheidung hat eine sehr wichtige Seite für die Ruhe der Staaten, die Sicherheit der Regierungen und die Freyheit der Völker; denn wenn von dem Einzelnen die allgemeine Staatsgewalt nur dasjenige fodert, was für sie nothwendig ist, und die Anstalten, daß diß nothwendige ihr geleistet werde, darauf einschränckt, so kann sie im übrigen die lebendige Freyheit und den eigenen Willen der Bürger gewähren und ihm noch einen grossen Spielraum lassen so wie die Staatsgewalt, welche in der Regierung als einem nothwendigen Mittelpunkt concentrirt ist, von den einzelnen die in der Peripherie sind, [ . . . ] um so weniger scheel angesehen wird. [ . . . ]

In Rücksicht auf eigentliche bürgerliche Gesetze und die Gerechtigkeitspflege, würde weder die Gleichheit der Gesetze und des Rechtsgangs Europa zu Einem Staate machen, sowenig als die Gleichheit der Gewichte, Maasse und des Geldes, noch hebt ihre Verschiedenheit die Einheit eines Staats auf; wenn es nicht schon im Begriffe des Staats läge, daß die nähern Bestimmungen der Rechtsverhältnisse über das Eigenthum Einzelner gegen Einzelne ihn als Staatsgewalt nicht berühren, die nur das Verhältniß des Eigenthums zu sich zu bestimmen hat, so könnte das Beispiel fast aller europäischen Staaten es uns lehren, unter welche die Mächtigsten der wahrhafften Staaten durchaus ungleichförmige Gesetze haben; Frankreich hatte vor der Revolution eine solche Mannichfaltigkeit von Gesetzen, daß ausser dem römischen Rechte, das in vielen Provinzen galt, in andern Burgundisches, Britannisches u.s.w. herrschte, und fast jede Provinz ja fast jede Stadt, ein besonderes herkommliches Gesetz hatte, und ein französischer Schrifftsteller mit Wahrheit sagte, daß wer durch Frankreich reise ebenso offt die Gesetze als die Postpferde wechsle.

Nicht weniger liegt der Umstand, ausser dem Begriffe des Staats, von welcher besondern Macht oder nach welchem Verhältnisse des Antheils verschiedener Stände oder der Staats-Bürger überhaupt, die Gesetze gegeben werden; ebenso der Charakter der Gerichtshöfe ob er in den verschiedenen Instanzen der Rechtspflege, in Beziehung auf die Mitglieder ein ererbter, oder von der obersten Gewalt ausgehender, oder von den Bürgern nach ihrem freyen Zutrauen, oder den Gerichtshöfen selbst ertheilter ist [ . . . ].

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