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Friedrich Schiller, Auszüge aus Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)

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Wieviel also auch für das Ganze der Welt durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu leugnen, daß die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluch dieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichförmige Spiel der Glieder die Schönheit. Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar außerordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und in welchem Verhältnis stünden wir also zu dem vergangenen und kommenden Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches Opfer notwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben, und unsrer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt – damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten, und den freien Wuchs seiner Menschheit entwickeln könnte!

Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt? Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen.


Siebenter Brief

Sollte diese Wirkung vielleicht von dem Staat zu erwarten sein? Das ist nicht möglich, denn der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, hat das Übel veranlaßt, und der Staat, wie ihn die Vernunft in der Idee sich aufgibt, anstatt diese bessere Menschheit begründen zu können, müßte selbst erst darauf gegründet werden. Und so hätten mich denn die bisherigen Untersuchungen wieder auf den Punkt zurückgeführt, von dem sie mich eine Zeitlang entfernten. Das jetzige Zeitalter, weit entfernt uns diejenige Form der Menschheit aufzuweisen, welche als notwendige Bedingung einer moralischen Staatsverbesserung erkannt worden ist, zeigt uns vielmehr das direkte Gegenteil davon. Sind also die von mir aufgestellten Grundsätze richtig, und bestätigt die Erfahrung mein Gemälde der Gegenwart, so muß man jeden Versuch einer solchen Staatsveränderung solange für unzeitig und jede darauf gegründete Hoffnung solange für schimärisch erklären, bis die Trennung in dem innern Menschen wieder aufgehoben, und seine Natur vollständig genug entwickelt ist, um selbst die Künstlerin zu sein, und der politischen Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbürgen.

Die Natur zeichnet uns in ihrer physischen Schöpfung den Weg vor, den man in der moralischen zu wandeln hat. Nicht eher, als bis der Kampf elementarischer Kräfte in den niedrigern Organisationen besänftiget ist, erhebt sie sich zu der edeln Bildung des physischen Menschen. Eben so muß der Elementenstreit in dem ethischen Menschen, der Konflikt blinder Triebe, fürs erste beruhigt sein, und die grobe Entgegensetzung muß in ihm aufgehört haben, ehe man es wagen darf, die Mannigfaltigkeit zu begünstigen. Auf der andern Seite muß die Selbstständigkeit seines Charakters gesichert sein, und die Unterwürfigkeit unter fremde despotische Formen einer anständigen Freiheit Platz gemacht haben, ehe man die Mannigfaltigkeit in ihm der Einheit des Ideals unterwerfen darf. Wo der Naturmensch seine Willkür noch so gesetzlos mißbraucht, da darf man ihm seine Freiheit kaum zeigen; wo der künstliche Mensch seine Freiheit noch so wenig gebraucht, da darf man ihm seine Willkür nicht nehmen. Das Geschenk liberaler Grundsätze wird Verräterei an dem Ganzen, wenn es sich zu einer noch gärenden Kraft gesellt, und einer schon übermächtigen Natur Verstärkung zusendet; das Gesetz der Übereinstimmung wird Tyrannei gegen das Individuum, wenn es sich mit einer schon herrschenden Schwäche und physischen Beschränkung verknüpft, und so den letzten glimmenden Funken von Selbsttätigkeit und Eigentümlichkeit auslöscht.

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