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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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9. Im Ganzen des Geschlechts hatte sie kein andres Schicksal, als was sie bei den einzelnen Gliedern desselben hatte; denn das Ganze bestehet nur in einzelnen Gliedern. Sie ward von wilden Leidenschaften der Menschen, die in Verbindung mit andern noch stürmischer wurden, oft gestört, jahrhundertelang von ihrem Wege abgelenkt und blieb wie unter der Asche schlummernd. Gegen alle diese Unordnungen wandte die Vorsehung kein andres Mittel an, als welches sie jedem einzelnen gewähret, nämlich daß auf den Fehler das Übel folge, und jede Trägheit, Torheit, Bosheit, Unvernunft und Unbilligkeit sich selbst strafe. Nur weil in diesen Zuständen das Geschlecht haufenweise erscheint: so müssen auch Kinder die Schuld der Eltern, Völker die Unvernunft ihrer Führer, Nachkommen die Trägheit ihrer Vorfahren büßen, und wenn sie das Übel nicht verbessern wollen oder können, können sie Zeitalter hin darunter leiden.

10. Jedem einzelnen Gliede wird also die Wohlfahrt des Ganzen sein eigenes Beste: denn wer unter den Übeln desselben leidet, hat auch das Recht und die Pflicht auf sich, diese Übel von sich abzuhalten und sie für seine Brüder zu mindern. Auf Regenten und Staaten hat die Natur nicht gerechnet; sondern auf das Wohlsein der Menschen in ihren Reichen. Jene büßen ihre Frevel und Unvernunft langsamer, als sie der einzelne büßet, weil sie sich immer nur mit dem Ganzen berechnen, in welchem das Elend jedes Armen lange unterdrückt wird; zuletzt aber büßet es der Staat und sie mit desto gefährlicherm Sturze. In alle diesem zeigen sich die Gesetze der Wiedervergeltung nicht anders als die Gesetze der Bewegung bei dem Stoß des kleinsten physischen Körpers, und der höchste Regent Europas bleibt den Naturgesetzen des Menschengeschlechts sowohl unterworfen als der Geringste seines Volkes. Sein Stand verband ihn bloß, ein Haushalter dieser Naturgesetze zu sein und bei seiner Macht, die er nur durch andre Menschen hat, auch für andre Menschen ein weiser und gütiger Menschengott zu werden.

11. In der allgemeinen Geschichte also wie im Leben verwahrloseter einzelner Menschen erschöpfen sich alle Torheiten und Laster unsres Geschlechts, bis sie endlich durch Not gezwungen werden, Vernunft und Billigkeit zu lernen. Was irgend geschehen kann, geschieht, und bringt hervor, was es seiner Natur nach hervorbringen konnte. Dies Naturgesetz hindert keine, auch nicht die ausschweifendste Macht an ihrer Wirkung; es hat aber alle Dinge in die Regel beschränkt, daß eine gegenseitige Wirkung die andre aufhebe, und zuletzt nur das Ersprießliche daurend bleibe. Das Böse, das andre verderbt, muß sich entweder unter die Ordnung schmiegen, oder selbst verderben. Der Vernünftige und Tugendhafte also ist im Reich Gottes allenthalben glücklich; denn sowenig die Vernunft äußern Lohn begehret, sowenig verlangt ihn auch die innere Tugend. Mißlingt ihr Werk von außen, so hat nicht sie sondern ihr Zeitalter davon den Schaden; und doch kann es die Unvernunft und Zwietracht der Menschen nicht immer verhindern: es wird gelingen, wenn seine Zeit kommt.

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