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Das Berlin-Ultimatum (27. November 1958)

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In Anbetracht der gegenwärtigen irrealen Politik der USA sowie Großbritanniens und Frankreichs gegenüber der DDR muß die Sowjetregierung jedoch die sich für die Westmächte ergebenden Schwierigkeiten voraussehen, um einer solchen Lösung der Berliner Frage förderlich zu sein. Zugleich ist sie darum besorgt, daß der Prozeß der Beseitigung des Besatzungsregimes nicht mit einem schmerzhaften Umbruch der bestehenden Lebensformen der Bevölkerung Westberlins verbunden sei.

Man muß natürlich berücksichtigen, daß die politische und wirtschaftliche Entwicklung Westberlins in der Zeit seiner Besetzung durch die drei Westmächte in einer anderen Richtung verlief als die Entwicklung Ostberlins und der DDR, so daß die Lebensformen in beiden Teilen Berlins gegenwärtig grundverschieden sind. Die Sowjetregierung ist der Meinung, daß der Bevölkerung Westberlins bei Beendigung der ausländischen Besetzung das Recht gewährt werden muß, solche Verhältnisse bei sich zu haben, die sie selbst wünscht.

Wenn die Einwohner Westberlins die gegenwärtigen Lebensformen beizubehalten wünschen, die auf privatkapitalistischem Eigentum beruhen, so ist das ihre Angelegenheit. Die UdSSR ihrerseits wird jede Wahl der Westberliner in dieser Beziehung respektieren.

In Anbetracht aller dieser Erwägungen würde es die Sowjetregierung ihrerseits für möglich erachten, daß die Frage Westberlin gegenwärtig durch Umwandlung Westberlins in eine selbständige politische Einheit – eine Freistadt – gelöst werde, in deren Leben sich kein Staat, darunter auch keiner der bestehenden zwei deutschen Staaten, einmischen würde. Man könnte unter anderem vereinbaren, daß das Gebiet der Freistadt entmilitarisiert werde und daselbst keinerlei Streitkräfte stationiert werden. Die Freistadt Westberlin könnte eine eigene Regierung haben und ihre Wirtschaft, ihre Verwaltungs- und sonstigen Angelegenheiten selbst lenken.

Die vier Mächte, die nach dem Kriege an der gemeinsamen Verwaltung Berlins beteiligt waren, wie auch die zwei deutschen Staaten, könnten die Verpflichtung übernehmen, den Status Westberlins als Freistadt zu achten, wie das beispielsweise die vier Mächte in bezug auf den von der Österreichischen Republik übernommenen Neutralitätsstatus getan haben.

Die Sowjetregierung ihrerseits hätte keine Einwände dagegen, daß in irgendeiner Form auch die Organisation der Vereinten Nationen an der Wahrung des Status der Freistadt Westberlin mitwirken würde.

Offensichtlich würde in Anbetracht der spezifischen Lage Westberlins, das sich auf dem Territorium der DDR befindet und von der Außenwelt abgeschnitten ist, die Frage auftauchen, mit der DDR in dieser oder jener Form eine Vereinbarung über Garantien für einen ungehinderten Verkehr der Freistadt mit der Außenwelt – sowohl in östlicher als auch in westlicher Richtung für die Freizügigkeit der Menschen und die Beförderung der Waren – zu treffen. Westberlin würde seinerseits die Verpflichtung übernehmen, in seinem Gebiet keine feindselige, subversive Tätigkeit gegen die DDR oder einen beliebigen anderen Staat zu dulden.

Die oben dargelegte Lösung für die Frage des Status Westberlins wäre ein wichtiger Schritt vorwärts zur Normalisierung der Lage in Berlin, da es, anstatt ein Herd der Unruhe und Spannung zu sein, zu einem Zentrum der Kontakte und der Zusammenarbeit zwischen beiden Teilen Deutschlands im Interesse seiner friedlichen Zukunft und der Einheit der deutschen Nation werden könnte.

Die Schaffung eines Freistadt-Status für Westberlin würde die Entwicklung der Wirtschaft Westberlins dank ihrer allseitigen Verbindungen mit Staaten des Ostens und des Westens und einen würdigen Lebensstandard der Bevölkerung der Stadt verläßlich garantieren.

Die Sowjetunion ihrerseits erklärt, sie werde in jeder Weise zur Erreichung dieser Ziele beitragen, insbesondere durch die Erteilung von Aufträgen für Industriewaren in einem Umfang, der die Stabilität und Prosperität der Wirtschaft der Freistadt vollkommen sichern würde, sowie durch regelmäßige Lieferungen der erforderlichen Mengen von Rohstoffen und Nahrungsmitteln auf geschäftlicher Grundlage an Westberlin. Auf diese Weise würde das mehr als zwei Millionen Einwohner zählende Westberlin bei der Aufhebung des Besatzungsregimes nicht etwa in Mitleidenschaft gezogen werden, sondern vielmehr alle Möglichkeiten zur Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung erhalten.

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