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Das Berlin-Ultimatum (27. November 1958)

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Es ist nicht schwer zu sehen, daß die Sowjetregierung in dieser ihrer Erklärung nur die bereits entstandene faktische Lage der Dinge konstatiert, die so ist, daß die USA, Großbritannien und Frankreich längst von dem Hauptsächlichen sich losgesagt haben, das in den Verträgen und Abkommen festgelegt wurde, welche zur Zeit des Krieges gegen Hitlerdeutschland und nach seiner Niederlage geschlossen wurden. Die Sowjetregierung zieht lediglich die Schlußfolgerungen, die sich unvermeidlich aus dieser Sachlage für die Sowjetunion ergeben.

Im Einklang mit dem Dargelegten sowie ausgehend von dem Prinzip der Achtung der Souveränität der DDR wird die Sowjetregierung im entsprechenden Moment mit der Regierung der DDR in Verhandlungen über die Übertragung der Funktionen an die DDR eintreten, welche die sowjetischen Organe auf Grund der oben genannten Alliiertenabkommen sowie auf Grund des Abkommens zwischen der UdSSR und der DDR vom 20. September 1955 zeitweilig ausgeübt haben.

Die beste Lösung der Frage Berlins wäre eine solche, die auf der Einhaltung des Potsdamer Abkommens über Deutschland beruhen würde. Doch dies ist nur dann möglich, wenn die drei Westmächte zur gemeinsamen Politik mit der UdSSR in den deutschen Angelegenheiten zurückkehren, die dem Geist und den Prinzipien des Potsdamer Abkommens entspricht. Unter den gegenwärtigen Umständen würde dies den Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der NATO, bei gleichzeitigem Austritt der DDR aus dem Warschauer Vertrag, sowie die Erzielung einer Übereinkunft bedeuten, daß sich gemäß den Prinzipien des Potsdamer Abkommens in keinem der beiden deutschen Staaten Streitkräfte befinden werden, außer solchen, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren und für die Bewachung der Grenzen erforderlich sind.

Wenn nun die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika nicht bereit ist, in dieser Weise zur Verwirklichung der politischen Hauptprinzipien der Alliiertenabkommen hinsichtlich Deutschlands beizutragen, so bestehen für sie keinerlei Grundlagen – weder rechtliche noch moralische –, auf der Wahrung des vierseitigen Status Berlins zu beharren.

Es können sich natürlich Widersacher der Sowjetunion finden, die versuchen werden, die Haltung der Sowjetregierung in der Frage des Besatzungsregimes Berlins als Bestreben zu einer Annexion auszulegen. Natürlich hat eine derartige Interpretierung mit der Wirklichkeit nichts gemein. Die Sowjetunion wünscht – gleich den anderen sozialistischen Staaten – keinerlei territoriale Erwerbungen, sie geht in ihrer Politik unbeirrbar von dem Prinzip der Verurteilung der Annexion, das heißt, der Eroberung fremden Bodens und des gewaltsamen Anschlusses fremder Völkerschaften aus, einem Prinzip, das der Begründer des Sowjetstaats, Lenin, schon in den ersten Tagen der Sowjetordnung in Rußland proklamiert hat.

Die UdSSR strebt keinerlei Eroberungen an, sondern will lediglich mit dem anomalen, gefahrvollen Zustand Schluß machen, der in Berlin dadurch entstanden ist, daß die Westsektoren dieser Stadt nach wie vor unter der Besatzung der USA, Großbritanniens und Frankreichs verbleiben.

In Verhältnissen, da die Westmächte sich weigern, an der Vorbereitung eines Friedensvertrags mit Deutschland teilzunehmen, und die Bundesregierung mit Unterstützung eben dieser Mächte eine Politik betreibt, die die Vereinigung Deutschlands verhindert, muß die Frage Berlin in nächster Zeit einer selbständigen Lösung zugeführt werden. Man muß darauf hinwirken, daß Westberlin kein Sprungbrett für verstärkte Spionage-, Diversions- und sonstige Wühlarbeit gegen die sozialistischen Länder, gegen die DDR und die UdSSR oder, um mit Worten der Führer der USA-Regierung zu sprechen, für eine «indirekte Aggression» gegen das Lager der sozialistischen Länder mehr sei.

Geht man auf das Wesen der Dinge ein, so besteht das Interesse der USA, Großbritanniens und Frankreichs an Westberlin lediglich darin, diese «Frontstadt», wie man es im Westen marktschreierisch zu bezeichnen pflegt, als Aufmarschgebiet für feindselige Tätigkeit gegen die sozialistischen Länder zu benutzen. Andere Vorteile ziehen die Westmächte aus ihrem Aufenthalt als Besatzer in Berlin nicht. Die Beendigung der illegalen Besetzung Westberlins würde weder den USA, Großbritannien noch Frankreich irgendwelchen Schaden bringen, sondern im Gegenteil würde sie die internationale Atmosphäre in Europa wesentlich bessern und die Geister der Menschen in allen Ländern würden beruhigt werden.

Demgegenüber könnte ein Beharren der Westmächte auf Besetzung Westberlins lediglich zu der Schlußfolgerung führen, daß es hier nicht nur um eine «indirekte Aggression» gegen die DDR und die Sowjetunion geht, sondern offenbar irgendwelche Pläne einer noch gefährlicheren Ausnutzung Westberlins in Aussicht genommen sind.

Die Sowjetregierung richtet diesen Appell an die USA-Regierung, ausgehend von dem Bestreben, eine internationale Entspannung herbeizuführen, dem Zustand des «Kalten Krieges» ein Ende zu machen und den Weg freizulegen für die Wiederherstellung der guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten sowie Großbritannien und Frankreich, alles aus dem Wege zu räumen, was unsere Länder gegeneinander aufbringt und entzweit, die Zahl der Ursachen zu verringern, die Konflikte hervorrufen. Und man kann doch der Tatsache nicht entrinnen, daß Westberlin bei seiner gegenwärtigen Lage gerade eine solche Quelle des Haders und des Argwohns zwischen unseren Ländern ist.

Selbstverständlich bestünde die richtigste und natürlichste Lösung dieser Frage darin, den westlichen Teil Berlins, der heute faktisch von der DDR losgelöst ist, mit dem östlichen Teil wiederzuvereinigen und Berlin zu einer einheitlichen Stadt im Bestande des Staats werden zu lassen, auf dessen Boden es sich befindet.

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