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Der Theologe Richard Schröder ruft zu einem demokratischen Patriotismus auf (1993)

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Und wir haften gemeinsam für unsere Zukunft. Deutsche Staatsbürger können und sollen mehr voneinander verlangen können an Aufmerksamkeit, Rücksicht und Berücksichtigung als von anderen. Hier wird eingewendet: Aber andere Menschen haben doch Hilfe viel nötiger. Sie sind am Verhungern. Das ist richtig. Das heißt z.B., daß sich Deutschland auf diesem Feld mehr als bisher engagieren muß. Eben dies setzt voraus, daß wir, die Deutschen, dies gemeinsam wollen, auch wenn es weh tut. Wir können Somalia helfen, wir können mit Somalia Verträge abschließen, vereinigen aber können wir uns mit Somalia nicht.

Also: wir, die Westler und die Ostler, sind Deutsche, weil uns unser Vaterland, unsere Muttersprache, unsere Geschichte und unsere Kultur verbinden. Und deshalb ist es gut und normal, daß wir, die so viel verbindet, wieder in einem gemeinsamen Staat mit gleichen Rechten und Pflichten zusammenleben und unsere gemeinsamen Angelegenheiten auch gemeinsam regeln. Verantwortung ist an Vertrautheit gebunden, Vertrautheit wird durch Verständigung gewonnen. Diese ist zwischen Deutschen Ost und Deutschen West trotz der vierzig Jahre Trennung einfacher als zwischen Deutschen und Vietnamesen, mit denen wir im Osten bisher unter dem abstrakten Titel „sozialistisches Weltlager“ verbunden sein sollten, während zugleich die vietnamesischen Gastarbeiter unter uns ebenso wie die sowjetischen Streitkräfte kaserniert und von echten Begegnungen mit der Bevölkerung weithin abgeschottet waren.

Wir haben genug Verbindendes, um das Trennende zu überwinden. Unterschiede zwischen Ostlern und Westlern werden sicher noch lange bleiben, aber die können doch auch ruhig bleiben, Deutschland war immer voller Unterschiede, bloß trennen sollen sie uns nicht mehr. Deutschland war immer polyzentristisch, das Land der vielen Residenzen, ein Vaterland der Vaterländer, dem ein Bund deutscher Länder am besten entspricht. Die DDR hat sich wieder in fünf Länder zerlegt, die älter sind als die DDR, seinerzeit aus niederen Motiven zerschlagen wurden und nun wieder errichtet sind. Das Regionale hat sich übrigens als Verbindendes schon vor der Wende gemeldet, besonders stark im Süden und im Norden der DDR.

Wenn ich sage: Deutschland ist mir das liebste Land (wenn auch nicht unbedingt das bequemste), so ist das kein Nationalismus, der jemanden diskriminiert, denn jedem sollte sein Land das liebste sein können. Ich diskriminiere ja auch niemanden, wenn ich sage: Meine Kinder sind mir die liebsten Kinder. Ich bin nämlich ihr einziger Vater, und das verpflichtet – auch manchmal auf unangenehme Weise. Es ist ganz in der Ordnung, daß mir dieses Land und seine Probleme wichtiger, ernster und näher sind als die anderer Länder, wie es auch ganz in der Ordnung ist, daß mir der Rest der Welt nicht egal ist. Und es ist ganz in der Ordnung, daß ich über polnische Angelegenheiten in einer anderen Tonart rede als über deutsche Angelegenheiten. Ich bin nämlich in Polen nicht zu Hause und habe mich deshalb auch nicht so zu benehmen, als wäre ich dort zu Hause. Und das wird sich nur graduell ändern, wenn Polen der EG beitritt. Wir müssen in Analogie zum zwischenmenschlichen Taktgefühl so etwas wie ein internationales Taktgefühl entwickeln.

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