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Godesberger Programm der SPD (November 1959)

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Die Gewerkschaften in der Wirtschaft

Alle Arbeiter, Angestellten und Beamten haben das Recht, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen. In der heutigen Wirtschaft sind die Arbeitnehmer denen ausgeliefert, die die Kommandostellen der Unternehmen und ihrer Verbände besetzen, wenn sie ihnen nicht in unabhängigen Gewerkschaften ihre solidarische, demokratisch geordnete Kraft entgegenstellen, um die Arbeitsbedingungen frei vereinbaren zu können. Das Streikrecht gehört zu den selbstverständlichen Grundrechten der Arbeiter und Angestellten.

Die Gewerkschaften kämpfen um einen gerechten Anteil der Arbeitnehmer am Ertrag der gesellschaftlichen Arbeit und um das Recht auf Mitbestimmung im wirtschaftlichen und sozialen Leben.

Sie kämpfen um größere Freiheit und handeln als Vertreter aller arbeitenden Menschen. Sie sind damit wesentliche Träger des ständigen Demokratisierungsprozesses. Jeden Arbeitnehmer zu ständiger Mitarbeit fähig zu machen und dafür zu sorgen, daß er diese Fähigkeiten nutzen kann, ist eine große Aufgabe der Gewerkschaften.

Die Arbeiter und Angestellten, die den entscheidenden Beitrag zum Ergebnis der Wirtschaft leisten, sind bisher von einer wirksamen Mitbestimmung ausgeschlossen. Demokratie aber verlangt Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben und in der gesamten Wirtschaft. Der Arbeitnehmer muß aus einem Wirtschaftsuntertan zu einem Wirtschaftsbürger werden.

Die Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie und im Kohlenbergbau ist ein Anfang zu einer Neuordnung der Wirtschaft. Sie ist zu einer demokratischen Unternehmensverfassung für die Großwirtschaft weiter zu entwickeln. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft muß sichergestellt werden.

Soziale Verantwortung

Sozialpolitik hat wesentliche Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sich der einzelne in der Gesellschaft frei entfalten und sein Leben in eigener Verantwortung gestalten kann. Gesellschaftliche Zustände, die zu individuellen und sozialen Notständen führen, dürfen nicht als unvermeidlich und unabänderlich hingenommen werden. Das System sozialer Sicherung muß der Würde selbstverantwortlicher Menschen entsprechen.

Jeder Bürger hat im Alter, bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit oder beim Tode des Ernährers Anspruch auf eine staatliche Mindestrente. Auf ihr bauen weitere, persönlich erworbene Rentenansprüche auf. So ist die im Arbeitsleben erreichte Lebenshaltung zu sichern. Alle sozialen Geldleistungen, auch die Renten der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, sind der Entwicklung der steigenden Arbeitseinkommen laufend anzupassen.

Technik und Zivilisation setzen heute den Menschen einer Vielzahl von gesundheitlichen Gefährdungen aus. Sie bedrohen nicht nur die lebende, sondern auch künftige Generationen. Gegen diese Schädigungen kann sich der einzelne nicht schützen. Deshalb fordert die Sozialdemokratische Partei eine umfassende Gesundheitssicherung. Lebensbedingungen und Lebensformen sind so zu gestalten und die Gesundheitspolitik ist so auszubauen, daß ein Leben in Gesundheit möglich wird. Der öffentliche Gesundheitsschutz, vor allem der Arbeitsschutz, und wirksame Methoden der Gesundheitsvorsorge für den einzelnen sind zu entwickeln. Es gilt sowohl das Bewußtsein der eigenen Verpflichtung zur Pflege der Gesundheit zu wecken als auch dem freigewählten Arzt alle Möglichkeiten zu gesundheitserhaltenden Maßnahmen und zur Vorbeugung gegen Krankheiten zu eröffnen. Die berufliche Entscheidungsfreiheit der Ärzte muß gesichert sein. Es ist eine öffentliche Aufgabe, die Krankenhausversorgung sicherzustellen.

Das gleiche Lebensrecht aller Menschen ist auch dadurch zu verwirklichen, daß bei Krankheit jeder unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage einen unbedingten Anspruch auf alle dem Stande der ärztlichen Wissenschaft entsprechenden Heilmaßnahmen hat. Die freigewählte ärztliche Hilfeleistung wird durch volle wirtschaftliche Sicherung im Krankheitsfalle ergänzt.

Bei vollem Ausgleich des Einkommens ist die Arbeitszeit fortschreitend zu verkürzen, wie es die Entwicklung der Wirtschaft ermöglicht.

Zur Bewältigung besonderer Lebensschwierigkeiten und Notlagen sind die allgemeinen sozialen Leistungen durch individuelle fürsorgerische Dienste und Leistungen der Sozialhilfe zu ergänzen. Sie arbeitet mit den Freien Wohlfahrtsverbänden und den Einrichtungen der Nächsten- und Selbsthilfe zusammen. Die Eigenständigkeit der freien Wohlfahrtspflege ist zu schützen.

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