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Theodor Fontane über den sich wandelnden Geschmack des Theaterpublikums (1878-1889)

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Alfred Loths, eines ehemaligen Schul- oder Studiengenossen Ingenieur Hoffmanns. Alfred Loth kam hierher, um die Arbeiterfrage, besonders die der Kohlengrubenarbeiter, an Ort und Stelle studieren zu können. Er ist idealer, sozialdemokratisch angeflogener Politiker und lebt von Artikel- und Bücherschreiben, ein anständiger Kerl, etwas verrannt, starker Doktrinär und Prinzipienreiter, aber durchaus ehrlich und zuverlässig. Unter seinen Prinzipien steht Bekämpfung des Alkoholismus obenan. Er gehört zu denen, die kraft ihrer Kraft wieder eine tüchtigere Menschensorte herstellen wollen, um dann, von der verbesserten Rasse, zur Menschenbeglückung fortzuschreiten. Gesundheit natürlich erste Bedingung, Grundlage. Dieser mit Menschheiterhebungsgedanken gesättigte Alfred Loth, den man kurz als einen Abstinenzfanatiker charakterisieren kann, steckt nun also in einer Schnapshöhle. Scharfe Beobachtung scheint nicht seine Spezialität; er merkt nichts. Vielleicht deshalb nicht, weil er sich, wie so oft die Doktrinäre, sofort für die jüngere Tochter Helene zu interessieren beginnt. Und sie für ihn. Mit dieser Helene steht es übrigens anders wie mit den andern Mitgliedern des Hauses. Ein Letzter Wille ihrer verstorbenen Mutter hatte sie vor etlichen Jahren, erziehungshalber, nach Herrnhut geführt, und das Eintreten Alfred Loths in ihres Vaters Haus ist ihr gleichbedeutend mit einer Wiederanknüpfung an Zeiten, wo sie noch Menschen sah und Menschen hörte. Mit einer von Augenblick zu Augenblick wachsenden Macht drängt sich ihr die Überzeugung auf, daß ihre Rettung aus dem Sumpf, in dem sie steckt, nur durch diesen wie durch eine göttliche Fügung in ihr Haus gekommenen einfachen Mann bewirkt werden kann, der nicht blendet und besticht, der aber ehrlich ist und Grundsätze hat. Und was das beste ist, der sie liebt. Es kommt zu keiner feierlichen Verlobung, aber sie sind verlobt, und Helene zählt die Stunden, die sie freimachen und in andere Verhältnisse hinüberführen sollen. Wenn nötig durch Flucht. Da führt das Schicksal, zu Heil oder Unheil, den Arzt des Gebirgsdorfes ins Haus, den Dr. Schimmelpfennig, in dem Alfred Loth, wie tags zuvor in Hoffmann, abermals einen Genossen aus alten Verbindungszeiten wiedererkennt, einen Genossen, der aber den Grundsätzen von damals treugeblieben ist. In einer wundervollen Szene, der dramatisch bedeutendsten des Stücks, entrollt der pessimistische, zugleich wie Loth von Idealen getragene Schimmelpfennig ein Bild des Krauseschen Hauses und Familienlebens vor dem entsetzt aufhorchenden Freunde, der sich nun vor die Wahl gestellt sieht, entweder mit seinen Prinzipien oder mit seinem Liebesversprechen zu brechen. Er wählt das letztere, schreibt ein Abschiedswort und verläßt das Haus. Als Helene, wenige Minuten später, von furchtbaren Ahnungen erfaßt, nach ihm sucht und nichts findet als das Abschiedswort, reißt sie verzweifelt und rasch entschlossen einen Hirschfänger von der Wand und stürzt auf die Nebenstube zu. Gleich danach kommt eine Magd, um Helenen eine Bestellung zu machen, und als sie, sie suchend, zuletzt in das angrenzende Zimmer getreten, stürzt sie mit einem Schrei des Entsetzens wieder hinaus, und durch das öde Haus hin klingt die Kunde von dem blutig Geschehenen. Die Szene bleibt leer, während der Vorhang niedergeht.

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