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Theodor Fontane über den sich wandelnden Geschmack des Theaterpublikums (1878-1889)

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VI. Fontantes Kommentar zu Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889)


Fontanes Kritik zu Hauptmanns Stück vor Sonnenaufgang bietet eine nützliche Zusammenfassung, sie zeigt darüber hinaus aber auch, inwiefern Stil und Themen des naturalistischen Theaters kulturelle Konventionen auf eine Weise brachen, die Fontanes Zustimmung fand.


I

Es ist (so wenigstens stehe ich zu der Sache) nie ganz leicht, zu kritisieren, und mitunter ist es schwer. Ein solcher Fall war gestern gegeben. Nur wer den Mut hat, frisch, fromm, fröhlich und frei rundweg zu verabscheuen oder rundweg in den Himmel zu heben, dem wird auch dies Gerhart Hauptmannsche soziale Drama kein großes Kopfzerbrechen machen; wer diesen Mut aber nicht hat, vielmehr sich mit jeder neuen Szene vor immer neue Fragen gestellt sieht, der wird sich der Schwierigkeit der Beantwortung all dieser Fragen bewußt werden und einen schweren Schreibetag haben.

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Eine sonderbare, eine gruselige Geschichte. Überall im Lande haben wir jetzt Gegenden, wo Bauern und mitunter bloße Kätner über Nacht reich geworden sind, und in eine solche Gegend führt uns das Stück. Es ist ein schlesisches Dorf am Rande des Gebirges, und das Haus, in das wir eintreten, ist nicht nur städtisch tapeziert und mit Bildern ausgestattet, es hat auch elektrische Klingeln und Telephon. Durch letzteres wird sogar gesprochen. Bewohnt ist das Haus, soweit es »herrschaftlich« ist, von fünf Personen, von denen vier den alten Stamm bilden: Bauer Krause, seine viel jüngere Frau zweiter Ehe und zwei Töchter erster Ehe. Die ältere Tochter ist bereits mit einem Ingenieur Hoffmann verheiratet, der nun der fünfte im Hause, seiner Stellung nach aber der erste ist. Er hat das Geschäftliche in die Hand genommen und das Vermögen, das er vorfand, schwindelhaft gesteigert, dabei zugleich für die Modernisierung des Hauses Sorge getragen. Ja, Klingeln und Telephon sind da, Pferd’ und Wagen auch, sogar ein »Eduard«, Livreediener aus Berlin. In Wahrheit aber ist dies auf den Vornehmheitsschein gestellte Haus ein furchtbares Haus, ein Haus mit einem Gespenst in jedem Winkel. Der alte Bauer lebt, als hochgradiger Säufer, eigentlich nur noch in der Schenke, die Frau zweiter Ehe, eine Kuhmagd von vordem oder doch nicht viel was andres, spielt sich, wenn’s ihr paßt, auf die »gnädige Frau« hin aus, die mit dem Ingenieur Hoffmann verheiratete ältere Tochter hat, vom Vater her, das Fuselbedürfnis geerbt, und ihr Gatte, Hoffmann, der Dirigens des Hauses, ist Phraseur und rücksichtsloser Genußmensch, der nur sich kennt und seinem Vergnügen alles unterordnet. Ehe sich uns diese Schnaps- und Sündensippe vollzählig vorstellt, machen wir die Bekanntschaft

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