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Theodor Fontane über den sich wandelnden Geschmack des Theaterpublikums (1878-1889)

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An solchem Hochzeitskuchen nimmt auch Friedel heute teil; die Schwester seines Freundes E. wurde heute nachmittag getraut und Mama war natürlich in der Kirche. Solche Paare werden immer in der Jerusalemer Kirche getraut, und die Traurede hub an: »Es ist ein kühner und heldenmütiger Schritt, den Sie vorhaben..« Wahr, aber ungewöhnlich.

Wir leben sehr unruhig, namentlich ich, Gesellschaften, Besuche von außerhalb und vor allem viel Theater. Darunter auch Aufführungen auf der sogenannten »Freien Bühne«, die vom kleinen Brahm geleitet wird. Morgen wieder, mittags von 12 bis 2, ein Realissimus von Drama, das wütende Kämpfe im Geleite haben wird; ich als Gonfaloniere der »Neuen« in vorderster Reihe. Was man nicht alles erlebt.

Wie immer Dein
alter Papa.



V. An Friedrich Stephany (22. Oktober 1889)


Kurz nachdem er die Premiere von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang am 20. Oktober 1889 besucht und unmittelbar nachdem er seine zweiteilige Kritik dazu verfasst hatte, stellte Fontane in seinen Briefen an Friedrich Stephany, seinen Redakteur bei der Vossischen Zeitung, Überlegungen über Ibsens und Hauptmanns Beiträge zum deutschen Theater an. Fontane war überzeugt, dass die Behauptung vieler Berliner Theaterkritiker, Hauptmann habe kein wirkliches Talent, unsinnig war.


Berlin, 22. Oktober 1889

Hochgeehrter Herr und Freunde.

Gestern abend, nachdem ich die 2. Hälfte meiner Kritik abgeliefert hatte, habe ich mir noch den Genuß gemacht, in einer Zeitungsbude die sämtlichen Abendzeitungen zu kaufen, um mich dann daheim in die Meinungen der Kollegenschaft zu vertiefen. Es war mir sehr genußreich; mir steckt von dem »alten Berliner« (aus den 30er Jahren her) gerade noch genug im Geblüt, um mich über gute Witze, selbst wenn ich sie verwerfen muß, zu amüsieren, und so habe ich mich über Lindau und Landau und über den Unbekannten im Kleinen Journal herzlich amüsiert [ . . . ]. Aber – und das ist der Grund, warum ich schreibe – alle diese Kritiken [ . . . ] sind Schimpfereien und Ulkereien, als Ulke zum Teil sehr gut, aber, auf das Eigentlichste hin angesehn, oberflächlich und böswillig, entweder ohne jedes wahre Kunstverständnis geschrieben oder unter Zurückdrängung aller besseren Einsicht. Es ist lächerlich, diesen jungen Kerl (Hauptmann) so mit der landläufigen Phrase, daß er auch ein bißchen Talent habe, abspeisen zu wollen. Das ist gar nichts, »ein bißchen Talent« hat jeder, das kann man von jedem dritten Menschen sagen, Hauptmann hat ein sehr großes, ein seltenes Talent, vor allem aber, und das muß ich immer wieder betonen – und darf es betonen, weil ich von den Dingen, die hier in Frage kommen, wirklich mehr verstehe als die andern –, vor allem spricht sich in seinem Stück ein stupendes Maß von Kunst aus, von Urteil und Einsicht in alles, was zur Technik und zum Aufbau eines Dramas gehört. Möglich, daß er die blinde Henne war, die das Korn zufällig fand und aufpickte, möglich, aber nicht wahrscheinlich. Bezwingen Sie, nach Möglichkeit, Ihre persönliche Abneigung gegen die Richtung (Gefühle respektiere ich durchaus), aber lassen Sie mich, als »alten Knopp«, die festeste Überzeugung aussprechen, daß hinter einem Manne, der so was schreiben kann, mehr steckt als hinter der andern Blase, die alle bloß nach der »Tantieme« schielen.

Ihr Th. F.

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