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Paul Göhre beschreibt einen Wahlkampf der Sozialisten in Chemnitz (1890)

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Vortrag und Debatte wurden von den etwa vierzig Männern, die immer anwesend zu sein pflegten, wie gesagt, mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. Man sah es diesen sinnenden, leuchtenden Augen an, wie die Köpfe mitarbeiteten, die vorgetragenen Gedankengänge aufzufassen und mitzudenken. Man rauchte viel Pfeife, doch auch Zigarren dazu und trank im Durchschnitt daneben ein, höchstens zwei Glas Bier, einfaches für 8 Pfennige oder Lagerbier für 15 Pfennige. Nur wenige verließen die Versammlung vor dem Schlusse, wenige auch, von den Mühen der Tagesarbeit überwältigt, schlummerten zuletzt ungestört ein. Sonst herrschte, wie gesagt, ungeteilte Aufmerksamkeit; denn solche Abende waren für diese Männer kein bloßes Vergnügen, sondern schwere Arbeit und immer Stunden eifrigen Lernens, scharfen Nachdenkens, der Auffrischung und Ermutigung in ihrem abwechslungslosen einförmigen Fabrikleben. Sie ersetzten, das kann man wohl ohne große Übertreibung sagen, vielen den früher gewohnten Kirchgang. Und darin liegt die große agitatorische Bedeutung dieser sozialdemokratischen Wahlvereine mit ihren regelmäßig wiederkehrenden Versammlungsabenden gerade in solchen Mittelstädten wie Chemnitz. Sie sind es, die den zur Sozialdemokratie sich neigenden Arbeiter dauernd, unaufhörlich, unauffällig bearbeiten, bis er mit seinem Dichten und Denken in den parteisozialistischen Gedankenkreisen aufgeht, und die den Befähigten schulen, daß er imstande ist, das Feuer der Überzeugung, das er an jenen Stätten in sich entfacht hat, nicht nutzlos verglühen zu lassen, sondern seine Kraft wieder zu verwerten in Agitation unter den Arbeitsgenossen und der eignen Familie, wie im Eintreten für die gemeinsame Sache bei Versammlungen mit den politischen Gegnern.

Äußerlich verliefen diese Abende immer gleichmäßig, unter immer derselben Tagesordnung: Aufnahme neuer Mitglieder, Verlesung des Protokolls über die letzte Sitzung, Vortrag, oder — in Fällen der Behinderung des angekündigten Referenten — Vorlesung einiger Artikel aus einer sozialdemokratischen Zeitung, meist der „Berliner Volkstribüne,“ die sich gut dazu eignet, darauf Debatte und Fragelasten. Gleich einförmig und stereotyp waren die Worte, mit denen der sonst begabte Vorsitzende die Versammlung leitete, und der Schriftführer über den Verlauf der vergangnen Sitzung berichtete: man sah hier deutlich, wie äußerlich angelernt noch die parlamentarischen Formen an diesen einfachen Menschen waren. Gäste waren in den Sitzungen immer willkommen, kamen aber stets nur aus Arbeiterkreisen, doch auch nicht allzu zahlreich. Jede der Sitzungen wurde abwechselnd durch einen königlichen Gendarm und den Gemeindediener des Ortes von einer bescheidnen Ecke des Zimmers aus überwacht. Doch rührten diese sich nie, und übrigens schien ihr persönliches Verhältnis zu den Arbeitern und das dieser zu ihnen nicht allzu feindlich zu sein. Man wünschte sich wenigstens fast immer gegenseitig einen guten Abend; auch sah ich denselben Ortsdiener manchmal an andern Abenden der Woche in einer gemütlichen Kneipe, die viel von uns Arbeitern besucht wurde, mit uns gemeinsam am runden Tische in Uniform sein Glas Bier trinken.

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