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Paul Göhre beschreibt einen Wahlkampf der Sozialisten in Chemnitz (1890)

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Die Sitzungen unsers Wahlvereins fanden in der Restauration unsrer Vorstadt statt, die das offizielle aber nicht alleinige Versammlungslokal der hier wohnenden Sozialdemokraten war. Sie war eine der besten im ganzen Orte. Wirt und Wirtin waren beide Sozialdemokraten, wenn sie sich auch gewissenhaft hüteten, sich in lange politische „Diskurse“ einzulassen. Die Frau zeichnete sich durch eine besondre, bei Frauen von mir noch nie erlebte Roheit der Gesinnung aus. Ich weiß noch genau, wie sie uns, die letzten Gäste, eines Nachts gähnend und schlafmüde mit der Blasphemie zum Heimgehen aufforderte: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein.“ Doch war, wie gesagt, dies nicht das einzige sozialdemokratische Lokal. Man kann wohl behaupten, daß die meisten, jedenfalls alle kleinen Kneipen unsers Ortes sozialdemokratische Wirte hatten. In zwei der größten Etablissements mit großen Konzertgärten, die auch von sogenannten bessern Chemnitzer Familien viel besucht wurden, und in denen allsonntäglich die verhältnismäßig nobelsten öffentlichen Tanzmusiken stattfanden, waren nur die dazu gehörigen „Kutscherstuben“ und deren Unterwirte sozialdemokratisch. In fast allen dieser Fälle war es offenbar das reine Geschäftsinteresse, das die Wirte dazu gemacht hatte.

Dieselbe Thatsache trat auch in kleinern Materialwarengeschäften, sogenannten „Büdchen,“ zu Tage. Ich habe da mehrmals erlebt, wie eifrig und beflissen die Besitzer, aber vor allem auch die Besitzerinnen auf die sozialistische Gesinnung ihrer Käufer eingingen. Dieser Geschäftssozialismus ist wohl in allen solchen Industriezentren weiter verbreitet, als man glaubt; er ist das Eigentum der allerverschiedensten zahlreichen Geschäftsleute und der Jammer aller ideal gerichteten Sozialdemokraten; denn er ist in den meisten Fällen gleichbedeutend mit Gesinnungslosigkeit. Aber er ist zugleich ein neues Zeichen dafür, welch eine reale Macht auch die sozialdemokratische Bewegung in solchen Orten bereits geworden ist.

In jeder der oben genannten Restaurationen und Kneipen lagen nun neben den Lokalzeitungen anderer oder überhaupt keiner Parteifarbe, neben „Kladderadatsch“ und „Fliegenden Blättern“ immer auch ein oder mehrere Exemplare sozialdemokratischer Zeitungen, vor allem der Chemnitzer „Presse,“ und einzelner Gewerkschaftsblätter aus. Es ist ja längst anerkannte Thatsache, welch ein Machtmittel die sozialdemokratische Agitation in ihrem Heer von über ganz Deutschland verbreiteten Zeitungen besitzt. Sie werden augenblicklich die Zahl von 130 übersteigen. In unserm Vororte zeigte sich im kleinen Kreise, im engen Rahmen ihr Einfluß und ihre Bedeutung. Es galt wohl für selbstverständlich, daß jeder von uns Arbeitern seine Zeitung las. Ausnahmen bestätigten auch hier nur die Regel. Man hielt in der Hauptsache — entweder allein oder, was noch häufiger war, zu zweien und dreien — eben die sozialdemokratische „Presse,“ ein durchaus besonnen und meist tüchtiger als unsre kleinstädtische Lokalpresse redigiertes Blatt, das so frei war, auch einmal Gedichte von Gerok und Uhland zu bringen, wie von irgend einem Windbeutel der jüngstdeutschesten, ins sozialdemokratische Lager übergegangenen Dichterschule. Daneben wurden auch der gut und besonnen geschriebene „Landesanzeiger,“ sowie die noch billigern „Neuesten Nachrichten,“ ein kleines, ganz unparteiisches Blättchen, wohl ein Absenker davon, häufig gehalten. Das ziemlich farblose reichstreue „Chemnitzer Tageblatt“ wurde nur wegen seines inhaltreichen Wohnungs- und Arbeitsstellenanzeigers ab und zu eingesehen, regelmäßig gelesen wohl nur von einer ganz kleinen Schar Arbeiter, den Elitesozialdemokraten, die es sich zu dem höchst anerkennenswerten und manchem „reichstreuen“ Philister zur Nachahmung zu empfehlenden Grundsatze gemacht hatten, von den hauptsächlichen politischen Parteirichtungen je ein Blatt zu halten, und das heißt für solche Leute immer auch: regelmäßig und genau durchzustudieren. Die Berliner „Volkstribüne,“ damals noch von Max Schippel redigiert und mehr wissenschaftlich, sachlich, vornehm gehalten, ohne Tagesklatsch und Parteigezänk (Tugenden, die es übrigens unter dem neuen radikalern und stark demagogisch angelegten Redakteur Paul Ernst neuerdings leider sämtlich verloren zu haben scheint), habe ich auch nur in diesem kleinen Kreise gefunden, häufiger das Fachorgan des großen Metallarbeiterverbandes, das aber bei weitem nicht nur Fachvereinsangelegenheiten zur Sprache bringt.

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