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Heinrich von Sybel beschreibt die Struktur des Deutschen Reichs und die Aussichten auf Freiheit (1. Januar 1871)

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Ist es nur die Jugend unserer Institutionen, welche dieses Ergebniß herbeigeführt? Wird die natürliche Fortentwicklung derselben uns die parlamentarische Regierung bringen? Ich halte es für möglich, unter bestimmten Voraussetzungen, welche glücklicher Weise so beschaffen sind, daß es in der Hand des Volkes selbst liegt, sie sich zu erzeugen. Sie lassen sich zusammenfassen in dem einen Worte: politische Bildung der Wähler. Liefern die Wahlen erst geschlossene Parteien, deren Führer zur Regierung zweifellos befähigt sind, so wird die Krone nicht lange zaudern, sich eines solchen Vortheils für die Kräftigung ihrer Regierung zu bedienen. Zu einer solchen Bildung aber ist nicht bloß Zeitungslesen und Vereinswesen, es ist praktische Arbeit im Dienste des Gemeinwohls, und als die beste Folge derselben der Sinn der Hingebung an das Ganze und die Möglichkeit fester Disciplin erforderlich. Wir besitzen nun in Preußen an der allgemeinen Wehrpflicht und der allgemeinen Schulpflicht die trefflichsten Grundlagen für eine solche Gesinnung und Erziehung praktischer Politik, wobei nur zu wünschen ist, daß der Staat die Schule nicht so ausschließlich, wie es seit 1840 geschehen, in den Dienst der hierarchischen Interessen stelle, sondern sie für die höchsten Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft ergiebiger zu verwerthen wisse. Dann aber wird Alles abhängen von der Organisation der inneren Landesverwaltung, und wie gesagt wir dürfen hoffen, daß hier in kurzer Frist erhebliche Schritte zum Guten geschehn, daß die Verständigung über eine gedeihliche Kreis- und Gemeindeordnung nicht lange mehr ausbleiben werde! Dann aber erst wird der Weg zur Erreichung parlamentarischen Regiments eröffnet sein.

Weit genug und schwierig genug, schwieriger als für England im 18. Jahrhundert, wird er sich uns auch dann zeigen. Wenn die politische Bildung der Wähler die entscheidende Bedingung parlamentarischen Regimentes ist, so wird die Aufgabe immer schwieriger mit jeder Ausdehnung des Wahlrechts auf weniger gebildete Klassen. Nun geht die demokratische Strömung, welche die Welt erfüllt, auch durch Deutschland. Alle Aemter sind allen Ständen geöffnet; neun Zehntel alles Besitzes sind beweglich und theilbar; durch die Wahlgesetze von 1850 und 1867 sind unsere Volksvertretungen auf rein demokratische Basis gestellt.* Auf der andern Seite entwickelt sich der sociale Zustand des Landes durch unermeßliche Fortschritte der Industrie, der technischen Wissenschaften, der Communicationsmittel, des militärischen Systems in immer größeren, immer verwickelteren Verhältnissen; die Aufgabe der Staatsverwaltung wird täglich weiter und tiefer, und fordert von jedem Beamten immer umfassendere Technik, immer speciellere Vorbildung.



* Das traf für die deutschen Bundesstaaten und vor allem für Preußen mit seinem Dreiklassenwahlrecht nicht zu.

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