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Heinrich von Sybel beschreibt die Struktur des Deutschen Reichs und die Aussichten auf Freiheit (1. Januar 1871)

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Diese Thatsache ist vorhanden; sie dient unserer Sache bei den liberalen Parteien des Auslandes durchaus nicht zur Empfehlung, und im Inlande wurmt sie unser Volk, und manchen unserer Deputirten nicht wenig. Immer aber würde man sich gründlich täuschen, wenn man darin ohne Weiteres einzig und allein den Ausdruck eines unsere Verhältnisse beherrschenden Absolutismus erkennen wollte. Die königliche Prärogative ist heute stärker in Deutschland als in England; sie behauptet eine Stellung, die man in mancher Beziehung mit jener der Tudors vergleichen kann. Aber ganz sicher ist es nicht die Kraft der königlichen Prärogative allein, welche bei uns die Ausbildung der parlamentarischen Regierung hindert. Die Ursache liegt großen Theils in uns selbst, und ich denke, daß dies Verhältniß günstig für unsere Zukunft ist, da wie das Uebel so auch das Heilmittel in uns selbst liegt. In England würde man eine Opposition nicht verstehn, welche ein Ministerium bekämpfte, ohne den Wunsch, sich an die Stelle desselben zu setzen, welche die Handlungen der Regierung bestritte, ohne die Bereitwilligkeit, die Verantwortlichkeit für eine bessere Verwaltung zu übernehmen. Parlamentarische Regierung heißt Regierung der jedesmaligen Majorität der Volksvertretung: damit sie existire, ist also erforderlich, daß eine gleichartige Majorität im Parlamente vorhanden, und daß sie in der Lage sei, aus ihrer Mitte ein Ministerium zu bilden. Beide Voraussetzungen aber haben bisher in Deutschland gefehlt, und ich glaube, daß wenig Aussicht vorhanden ist, sie schon in der nächsten Zukunft erscheinen zu sehn. Der deutsche Reichstag und das preußische Abgeordnetenhaus zerfallen in sechs bis acht Fractionen, unter denen bisher nie eine größere Anzahl als zwei oder drei es zu Coalitionen gebracht haben, und selbst diese Coalitionen besaßen nicht immer die Majorität, und bildeten noch weniger eine geschlossene und bleibende Majorität. So lange dieses Verhältniß dauert, ist es für sich allein ausreichend, ein parlamentarisches Ministerium unmöglich zu machen. Wenn das Haus aus sechs, unter einander streitenden Minoritäten besteht, so ist es unmöglich, ein Ministerium der Majorität zu bilden. Dazu kommt aber hinzu, daß die parlamentarischen Institutionen überhaupt in Preußen erst zwanzig, in Süddeutschland erst fünfzig Jahre alt sind. Die Erfahrung hat uns gezeigt, daß diese Zeit zu kurz ist, um der Bevölkerung als ausreichende praktische Schule für die parlamentarische Regierungsform zu dienen. Noch heute betrachtet die große Zahl der Wähler als die wichtigste Pflicht des Abgeordneten die Controle und die Kritik der Regierung; sie findet die wahre Bürgschaft ihrer Freiheit nicht in der besten Handhabung, sondern in der möglichsten Beschränkung der Regierungsgewalt. Ein Candidat, der sich merken ließe, daß er den Wunsch oder die Fähigkeit besäße, Minister zu werden, würde damit bei zahlreichen Wählerschaften seine Popularität auf der Stelle einbüßen.

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Unmöglich kann sich hier inmitten der parlamentarischen Parteien eine feste Schule praktischer Staatsmänner bilden, welche die Fähigkeit zur Regierung eines großen Reiches besitzen. Wenn die nächsten Wahlen zum deutschen Reichstag, was ich nicht glaube, eine compacte liberale Mehrheit ergäben, wenn dann der König die Führer derselben mit der Auswahl seiner Minister beauftragte, sie würden ihm für die Fächer des Innern, des Unterrichts, der Justiz technische Capacitäten aus ihren eigenen Reihen vorschlagen, aber nichts ist gewisser, als daß sie für Auswärtiges, Krieg und Finanzen die Beibehaltung der jetzigen Inhaber* empfehlen würden, nicht bloß, weil diese Männer hervorragende Leistungen aufzuweisen haben, sondern weil die Majorität keine Candidaten für diese Aemter besäße.


* Bismarck, Roon, Camphausen.

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