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Friedrich Nietzsche zu Deutschlands Sieg über die Franzosen und den „Bildungsphilister”: Unzeitgemäße Betrachtungen (1873-76)

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Sollte es möglich sein, jene gleichmüthige und zähe Tapferkeit, welche der Deutsche dem pathetischen und plötzlichen Ungestüm des Franzosen entgegenstellte, gegen den inneren Feind, gegen jene höchst zweideutige und jedenfalls unnationale Gebildetheit wachzurufen, die jetzt in Deutschland, mit gefährlichem Missverstande, Kultur genannt wird: so ist nicht alle Hoffnung auf eine wirkliche ächte deutsche Bildung, den Gegensatz jener Gebildetheit, verloren: denn an den einsichtigsten und kühnsten Führern und Feldherrn hat es den Deutschen nie gemangelt – nur dass diesen oftmals die Deutschen fehlten. Aber ob es möglich ist, der deutschen Tapferkeit jene neue Richtung zu geben, wird mir immer zweifelhafter, und, nach dem Kriege, täglich unwahrscheinlicher; denn ich sehe, wie jedermann überzeugt ist, dass es eines Kampfes und einer solchen Tapferkeit gar nicht mehr bedürfe, dass vielmehr das Meiste so schön wie möglich geordnet und jedenfalls alles, was Noth thut, längst gefunden und gethan sei, kurz dass die beste Saat der Kultur überall theils ausgesäet sei, theils in frischem Grüne und hier und da sogar in üppiger Blüthe stehe. Auf diesem Gebiete giebt es nicht nur Zufriedenheit; hier giebt es Glück und Taumel. Ich empfinde diesen Taumel und dieses Glück in dem unvergleichlich zuversichtlichen Benehmen der deutschen Zeitungsschreiber und Roman- Tragödien- Lied- und Historienfabrikanten: denn dies ist doch ersichtlich eine zusammengehörige Gesellschaft, die sich verschworen zu haben scheint, sich der Musse- und Verdauungsstunden des modernen Menschen, das heisst seiner Kulturmomente zu bemächtigen und ihn in diesen durch bedrucktes Papier zu betäuben. An dieser Gesellschaft ist jetzt, seit dem Kriege, Alles Glück, Würde und Selbstbewusstsein: sie fühlt sich, nach solchen Erfolgen der deutschen Kultur, nicht nur bestätigt und sanctionirt, sondern beinahe sakrosankt, spricht deshalb feierlicher, liebt die Anrede an das deutsche Volk, giebt nach Klassiker-Art gesammelte Werke heraus und proclamirt auch wirklich in den ihr zu Diensten stehenden Weltblättern Einzelne aus ihrer Mitte als die neuen deutschen Klassiker und Musterschriftsteller. Man sollte vielleicht erwarten, dass die Gefahren eines derartigen Missbrauchs des Erfolges von dem besonneneren und belehrteren Theile der deutschen Gebildeten erkannt, oder dass mindestens das Peinliche des gegebenen Schauspieles gefühlt werden müsste: denn was kann peinlicher sein, als zu sehen, dass der Missgestaltete gespreizt wie ein Hahn vor dem Spiegel steht und mit seinem Bilde bewundernde Blicke austauscht. Aber die gelehrten Stände lassen gern geschehen, was geschieht, und haben selbst genug mit sich zu thun, als dass sie die Sorge für den deutschen Geist noch auf sich nehmen könnten. Dazu sind ihre Mitglieder mit dem höchsten Grade von Sicherheit überzeugt, dass ihre eigene Bildung die reifste und schönste Frucht der Zeit, ja aller Zeiten sei und verstehen eine Sorge um die allgemeine deutsche Bildung deshalb gar nicht, weil sie bei sich selbst und den zahllosen Ihresgleichen über alle Sorgen dieser Art weit hinaus sind. Dem sorgsameren Betrachter, zumal wenn er Ausländer ist, kann es übrigens nicht entgehen, dass zwischen dem, was jetzt der deutsche Gelehrte seine Bildung nennt, und jener triumphirenden Bildung der neuen deutschen Klassiker ein Gegensatz nur in Hinsicht auf das Quantum des Wissens besteht: überall wo nicht das Wissen, sondern das Können, wo nicht die Kunde sondern die Kunst in Frage kommt, also überall, wo das Leben von der Art der Bildung Zeugniss ablegen soll, giebt es jetzt nur Eine deutsche Bildung - und diese sollte über Frankreich gesiegt haben?

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