GHDI logo

Der Direktor des Zentralinstituts für Jugendforschung äußert sich zur zunehmenden Entfremdung der Jugendlichen von der DDR (21. November 1988)

Seite 5 von 5    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Abschließend soll noch betont werden: Wir brauchen ein anderes Verhältnis zum selbständigen, zum schöpferischen (das impliziert auch zum nonkonformistischen) Denken. Wir dürfen Gesellschaft und Politik nicht so stark [gegen] das selbständige Denken immunisieren. Dabei plädiere ich nicht für die Grenzenlosigkeit, sondern nur für eine bedeutende Erweiterung der Toleranzgrenzen.

Inhumanes, menschengefährdendes, fortschrittfeindliches Denken (z. B. faschistisches Denken) ist nicht erlaubt, muß bekämpft werden. Ich bin jedoch mehr für die schöpferische Diskussion verschiedener politischer Thesen, Hypothesen im Sinne der Suche nach immer besseren Wegen der sozialistischen Gesellschaft – unter den sich stets wandelnden Existenzbedigungen unserer Gesellschaft.

Wir sollten unsere sozialistischen Gesellschaft mehr „auf dem Wege“, mehr in ihrer ständigen Entwicklung, mehr in ihrer Unvollkommenheit, damit in ihrer notwendigen Veränderung und Optimierung sehen. Wir sollten den Status quo unserer Gesellschaft mehr relativieren. Das ist aus verschiedenen Gründen notwendig. Einer davon ist der gravierende Mentalitätswandel unserer Bevölkerung, besonders der Jugend.

Die Identifizierung der Bevölkerung mit unseren Zielen und Werten, mit der Politik unserer Partei, kann nur erhöht werden, wenn wir zu bedeutenden neuen Formen im Umgang (Information, Offenheit, demokratische Mitgestaltung) mit den Menschen finden. Anderenfalls werden sich die Menschen in den nächsten 1–3 Jahren weiter, und zwar in einem bedrohlichen Ausmaß von uns entfernen. Wenn wir in unserer Leitung, Erziehung, Propaganda, ja in unserer Politik nicht erkennen und berücksichtigen, daß die DDR-Bürger (nicht nur der jüngere!) heute eine ganz andere Mentalität, ein ganz anderes Bewußtsein besitzt als vor 10/20 Jahren, dann können unsere Reden, Appelle, politischen Informationen in den Medien keineswegs die erwartete Wirkung erzielen. Die Menschen nehmen sie dann gar nicht erst zur Kenntnis, immunisieren sich ihnen gegenüber immer mehr (haben viele Gegenargumente, Alltagsbeobachtungen parat), reagieren immer mehr aus einer Position der Konfrontation, Enttäuschung, Opposition – oder resignieren.





Quelle: Walter Friedrich, „Einige Reflexionen über geistig-kulturelle Prozesse in der DDR“, (21. November 1988), SAPMO-BArch, SED, ZK, IV 2/2039/246; abgedruckt in Gerd Rüdiger Stephan, Hg., Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Interne Dokumente zum Zerfall der SED und der DDR. Berlin, 1994, S. 39-53.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite