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Frau Marion Beymes Erinnerungen an Marburg und Berlin während der NS-Zeit (Rückblick, Anfang der 90er Jahre)

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Solcher »Defätismus« konnte ins Konzentrationslager führen.

Frau Beyme sagte, die Informationsquelle ihrer Familie seien in erster Linie die verbotenen Radiosendungen geblieben. Ich fragte, ob sie auch Berichte über Vergasungen beinhaltet hätten. Sie flüsterte: »Das kann ich dir nicht genau sagen. Das weiß ich nicht. Das weiß ich nicht.«

Ich fragte, wann sie etwas erfahren hatte.

»Ich habe so was [Transporte] nicht gesehen und habe die Details bestimmt erst nach der Kapitulation erfahren.«

Meinte sie mit »Details« die Vergasungen?

»Ja. Das hat man sicher schon mal so gehört. Aber wie weit das wahr war, das wußte man nicht. Man hielt vieles für möglich, aber ob das wirklich war – es war beinahe zu schrecklich, um es zu glauben. Und erst nachher, als man Bilder sah, hat man es wirklich geglaubt.«

Ich versuchte, sie darauf festzulegen, wann sie welche Gerüchte gehört habe. Sie antwortete, sie müsse mich enttäuschen, das wisse sie einfach nicht.

Und was genau hatte sie gehört?

»Daß die Juden verschleppt wurden. Erst haben wir das gesehen, haben sie ja arbeiten müssen, Rechtsanwälte oder so, die haben die Schienen von den Straßenbahnen rausmachen müssen.« Und sie fügte leise hinzu: »Und fuhren selbst nicht mehr. Die haben gearbeitet, ganz schwere Arbeit, die sie gar nicht gewohnt waren, die sie schwer verkraftet haben. Und dann wußte man, wenn sie das eine Weile gemacht haben, dann werden sie abtransportiert. In ein Lager. Mehr konnte man sich gar nicht vorstellen.«

Ja, aber die Gerüchte, bohrte ich nach . . .

»Es kommt dir vielleicht unglaubhaft vor, aber ich habe nicht viel gehört vor dem Ende des Krieges. Es war mehr so ein dumpfes Gefühl, wer weiß, was da Schreckliches mit den Leuten passiert. Aber Einzelheiten habe ich nicht gehört.«

Einzelheiten?

»Naja, ich habe nicht gewußt, wo es Konzentrationslager gibt, wie viele Konzentrationslager es gibt, und was man da eigentlich mit ihnen macht, und auch Vergasungen, das hat sicher lange gedauert, bis ich das wirklich geglaubt habe, gewußt habe.« Sie flüsterte. »Überhaupt davon gehört.«

Sie meinte auch, sie sei unsicher, was sie bereits während des Krieges erfahren habe und was erst danach.

Was hat sie mit ihrem Wissen, worin auch immer das bestanden haben mag, während des Krieges angefangen?

Sie sagte, ihre einzige Zuflucht sei gewesen, ihren Freunden davon zu erzählen und sich gemeinsam mit diesem Wissen herumzuquälen. »Es war schon so weit gediehen, du konntest ja nichts unternehemen [sic], ohne umgebracht zu werden. Es war dann schon zu spät. Wir sind alle zu spät aufgewacht. Beseitigt zu werden, das nützt da ja auch nichts.« Da die deutschen Frauen für ihre betagten Eltern und ihre Kinder verantwortlich und folglich am wenigsten unabhängig gewesen seien, habe man von ihnen auch am wenigsten erwarten können, daß sie ihr Leben risikierten. »Ein Mann hat sich im ›Dritten Reich‹ sagen können: ›Ich kann alles riskieren, meine Kinder sind ja versorgt.‹ Die Frau kümmert sich ja um die Kinder. Aber Frauen konnten sich nicht darauf verlassen, daß ein Mann sich um die Kinder kümmert.

Außerdem«, sagte sie, »braucht man viel Mut. Ich meine, es ist ja nicht jeder ein Held. Das, glaube ich, darf man von keinem Menschen erwarten, daß er so mutig ist. Das ist zuviel verlangt.«



Quelle: Alison Owings, Eine andere Erinnerung: Frauen erzählen von ihrem Leben im »Dritten Reich.« Aus dem Amerikanischen von Kay Dohnke. Berlin: Ullstein Verlag, 1999, S. 256-282. Veröffentlicht hier mit der freundlichen Genehmigung von Autorin und Übersetzer.

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