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Frau Marion Beymes Erinnerungen an Marburg und Berlin während der NS-Zeit (Rückblick, Anfang der 90er Jahre)

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Nach einer Weile sagte sie, daß sie zwar dieses Verhalten verstehen könne, aber »der Stadtkommandant hätte sich vielleicht doch mehr Mühe geben müssen und unterscheiden – denn alte Nicht-Nazis so zu enttäuschen, war natürlich hart.«

Enttäuscht oder nicht, sie bewarb sich um einen Job als Sekretärin für die amerikanischen Streitkräfte und bekam ihn auch. Und da traf sie einen »sehr netten jüdischen Offizier«, der bei seinem Vorgesetzten ein Wort dafür einlegte, daß ihre Familie in ihr Haus zurück durfte, doch ohne Erfolg. Der Stadtkommandant konnte durchaus seine Zweifel gehabt haben, denn auf den Straßen Marburgs war selbstverständlich niemand Nazi gewesen. »Das war uns natürlich höchst peinlich. Die waren es alle nicht mehr gewesen. Das ging sehr schnell. Die waren plötzlich anders angezogen, alle Uniformen waren weg, und Abzeichnen gar nicht, und das haben sie alle nur gezwungenermaßen . . . Und der Umschwung ging so schnell, das war ein Witz. So was habe ich noch nie erlebt.«

Nachdem sie monatelang praktisch auf der Straße gesessen hatte, durfte die Familie wieder in ihren Keller zurückkehren, was sie einem »sehr netten Amerikaner« zu verdanken hatten, dem die Verantwortung für das Haus übertragen worden war. Später erlaubte er ihnen auch insgeheim, in den Dachbodenräumen zu schlafen, und schließlich auch, die Toilette anstelle eines Eimers zu benutzen.

Frau Beyme sagte nicht, ob das Verhalten der Amerikaner in irgendeiner Weise von dem beeinflußt gewesen war, was sie über das Schicksal der gerade befreiten Insassen der Konzentrationslager wußten oder erfuhren, oder ob die Soldaten sie gefragt hatten, inwieweit sie etwas vom Holocaust gewußt habe.

Doch ich fragte sie, was sie gewußt hatte. Das Thema kam in unserem ersten Interview zur Sprache, auch in den späteren Jahren, in denen die Beymes mir nicht nur Gastlichkeit, sondern auch Freundschaft boten. Tatsächlich war diese Freundschaft ein Grund, daß ich mich verpflichtet fühlte, Marion Beyme nachdrücklicher als andere Frauen hiernach zu befragen. Wir waren per Du miteinander. Das Du ging mir schwer über die Lippen. Ein anderer Grund, in dieser Frage hartnäckig zu bleiben, war mein Eindruck, daß sie offenbar viel Mühe darauf verwendet hatte, in ihre Seele hineinzuhorchen und über das »Dritte Reich« und ihren eigenen Platz darin nachzugrübeln. Und schließlich: Ich vertraute ganz einfach darauf, daß sie zumindest versuchen würde, die Wahrheit zu sagen.

Dieses Vertrauen wurde bestätigt, als wir gemeinsam ein wenig die Nachwirkungen des Holocaust erlebten. Die Beymes hatten mich in ihr Feriendomizil mitgenommen, ein zweihundertfünfzig Jahre altes Haus in Herrn Beymes Geburtsort in der Eifel (in der Konditorei eines Verwandten flüsterte er mir zu: »Keine einzige der Zutaten ist der Natur geraubt worden.«) Einmal unternahmen wir zusammen mit einem Cousin und dessen Frau einen langen Spaziergang in einem nahegelegenen Wald. Unterwegs gesellte sich der Cousin, scheinbar ein freudndlicher Mann, zu Frau Beyme und mir. Er wolle mir etwas erzählen, sagte er, das ihm als Soldat im Zweiten Weltkrieg widerfahren sei. Denn ihn stelle das vor eine Frage, die eine Amerikanerin seiner Meinung nach beantworten könne.

Am Ende des Krieges, so begann er, nahmen amerikanische Truppen seine Einheit in Süddeutschland gefangen. Der amerikanische Kommandant befahl den deutschen Soldaten, ein riesiges Massengrab zu exhumieren und die Leichen nebeneinanderzulegen (Die Amerikaner wollten vermutlich die Toten zählen, identifizieren und wieder beerdigen). Während wir so dahingingen, erzählte der Mann weiter. Wie sie bis an die Hüften in der Leichengrube gestanden hätten. Wie er an einem Körper gezogen und sich die Haut abgelöst habe. Das war das Problem, sie zu bewegen, meinte er; man wollte an einem Arm ziehen und hatte nur die Haut in den Händen. Und dieser Gestank. Wenn man zum Schlafen hineinging, mußte man die Kleidung draußen lassen.

Während der ganzen Zeit sagte er von sich aus kein Wort darüber, wer die Opfer gewesen oder wie sie gestorben sein könnten. Er äußerte sich auch nicht zu der Unmenschlichkeit, die zu dieser Grube des Horrors geführt hatte, und schwieg sich darüber aus, was es für ihn gefühlsmäßig bedeutet hatte, eine solche gräßliche Aufgabe auszuführen. Zugegeben, ich hatte keine Ahnung, was sich in seinem Unterbewußtsein abspielte. Doch an der Oberfläche schien er nichts zu verbergen. Er schien ganz einfach nichts dabei empfunden zu haben. Dann kam er zu seinem Punkt. Seine Freunde hätten ihn ausgelacht und ihm nicht geglaubt, als er ihnen davon erzählte, daß die Haut einfach so von den Armen abging. Ob ich herausfinden könne, welche amerikanische Einheit an der Grube im Einsatz sei, damit er beweisen könne, daß es stimmte?

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