GHDI logo

Freiheit als Kern der deutschen Frage (15. März 1984)

Seite 3 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Fünftens. Wir müssen Europa einigen, um auch für Deutschland die Einheit in Freiheit zu vollenden.

Als Land in der europäischen Mitte, im Brennpunkt des europäischen Mächtesystems wurde Deutschland immer wieder der Ort, an dem andere Staaten ihre Interessen miteinander austrugen, es gab dabei auch Phasen, in denen die Deutschen die Gefahr verdrängten, die in ihrer europäischen Mittellage begründet ist. Sie haben der Versuchung zu nationalen Sonderwegen nachgegeben und in jenen Tagen auf eine Politik der Hegemonie gesetzt. Wir alle wissen, daß damit unser Land gescheitert ist. Unsere Generation hat die Lektion aus dieser historischen Erfahrung gelernt. Kein deutscher Sonderweg kann unser Land aus der Mitte Europas herausführen. Im europäischen Rahmen müssen und wollen wir unsere Zukunft gestalten und auch als Friedenswerk die nationale Frage lösen.

Wir wissen um die europäische Dimension der deutschen Teilung, die wir nur mit Unterstützung durch die Völker, d. h. durch die Nachbarn in Europa überwinden können. Wir sind uns auch bewußt, welch große Verantwortung gerade unser Land als Stabilitätsfaktor in der Mitte Europas zu tragen hat. Niemand soll glauben, die Deutschen würden noch einmal ihre europäische Verantwortung mißachten. Von deutschem Boden muß Frieden ausgehen. Wir sind immun gegen jede Versuchung, unsere europäische Bindung abzustreifen, das gesamteuropäische Gleichgewicht zu ignorieren und die Überwindung der Teilung isoliert von unseren Nachbarn anzustreben.

Diese europäische Bindung hat aber noch eine andere Seite: Mit dem Anspruch der Deutschen auf freie Selbstbestimmung findet das geteilte Europa eine Kraft, die auch seiner Erneuerung und seiner Einigung dienen kann. Zugleich wissen alle Europäer, daß die Überwindung der Teilung Europas für Deutschland eine Friedensordnung voraussetzt, die vom ganzen deutschen Volk in freier Selbstbestimmung angenommen werden muß. Uns ist bewußt, meine Damen und Herren, daß der nationale Gedanke der Deutschen und die europäische Idee einander bedingen. Für uns sind Europapolitik und Deutschlandpolitik wie zwei Seiten einer Medaille. Motor für die Einigung Europas zu sein, dies ist Teil des nationalen Auftrags, Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an. Unsere freiheitliche politische Kultur braucht den europäischen Horizont gemeinsamer Grundwerte.

[ . . . ]

Sechstens. Die deutsche Nation gehört zum Westen.

Unser Standort ist und bleibt in der Allianz für die Freiheit. Die politische Ordnung der westlichen Demokratien – persönliche Freiheit, Rechtsstaat, politische Selbstbestimmung – ist es wert, im Innern bewahrt und nach außen verteidigt zu werden. Das heißt für uns ganz selbstverständlich: auch in Zukunft freie Wahlen, freie Meinungsäußerung, unabhängige Gewerkschaften, Freizügigkeit und vieles mehr. Das schulden wir uns selbst und unseren Bündnispartnern, das sind wir aber auch, meine Damen und Herren, den Menschen in Mittel- und Osteuropa schuldig. Auch sie wollen freie Menschen sein, in Freiheit leben und über ihr Gemeinwesen und ihren politischen Willen selbst bestimmen können. Und darin liegt ja das eigentliche Problem der deutschen und europäischen Teilung: in der Verweigerung von Freiheit und Selbstbestimmung für die Menschen in Mittel- und Osteuropa.

[ . . . ]

Meine Damen und Herren, so trennt die Grenze zwischen Ost und West, was in Freiheit zusammengehört. So wie die deutsche Frage im Brennpunkt europäischer Geschichte steht, so ist – ich wiederhole es – die Freiheit der Kern der deutschen Frage. Freiheit ist die Bedingung der Einheit. Sie kann nicht ihr Preis sein. Ich warne nachdrücklich vor jeder Illusion, als könnten unsere Freiheit und unsere Sicherheit gegen unseren Wunsche nach Einheit ausgespielt werden.

[ . . . ]



Quelle: Bericht von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, 15. März 1984, in Bulletin (Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung), Nr. 30, 16. März 1984, S. 261-68.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite