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Ein kommunistischer Philosoph kritisiert den „real existierenden Sozialismus” der DDR (1977)

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Das Zentrum der Krise, die dort nur noch nicht den gleichen Reifegrad erreicht hat wie etwa in der DDR und ČSSR, ist die Sowjetunion selbst, obwohl sich zunächst an der Peripherie die Erde hebt. Alles was die sowjetische Führung unternimmt, um auf dem Boden der bestehenden Zustände deren Konsequenzen zu entgehen, kann ihre Zuspitzung nicht aufhalten. Hat doch auch der 21. August die geistige Polarisierung in den übrigen Ländern des Blocks beschleunigt. Gerade der allgemeine, umfassende und fundamentale Charakter der Krise, gerade der Umstand, daß ihr Herd in der Sowjetunion liegt, läßt die Perspektiven der Erneuerungsbewegung und ihre Aufgaben in einem ganz anderen, hoffnungsvolleren Lichte erscheinen. Die Diskussionen der sowjetischen Ökonomen und Soziologen kreisen ohnehin schon immer enger um die entscheidenden Punkte, und nicht zufällig leben unter der Oberfläche die Argumente der frühen zwanziger Jahre wieder auf. Die Sowjetunion muß sich reformieren, um in ihrer inneren Entwicklung mit den Ansprüchen der Massen Schritt zu halten und ihre internationale Position zu wahren. Die überlebten Kräfte werden daran gehindert werden, ihre besonderen Kasteninteressen vornanzustellen. Zunächst gilt es, den Spielraum für die öffentliche Diskussion über die »brennenden Fragen unserer Bewegung« zu erobern.

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Man kann sich nicht die Aufgabe stellen, alle diese Probleme in einem einzigen Wurf detailliert aufzurollen, obwohl es zu einigen von ihnen eine Unmenge Literatur gibt, die unserer Öffentlichkeit bewußt vorenthalten bleibt und daher auch nicht kritisch aufgearbeitet wird. Aber man kann sich, auch ohne irgendwelche monographischen Ansprüche, eine Einstellung zu diesem ganzen Komplex erarbeiten. Und man kann sich vornehmen, das vorläufige Ergebnis, zu dem man gelangt, in einem Entwurf von der Art der Marxschen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte niederzuschreiben. [ . . . ]

Die Stunde der Theorie und der Geschichte muß beginnen. Die Stunde der Politik wird früher oder später folgen.

Der I. Teil des Buches befaßt sich mit dem Phänomen des nichtkapitalistischen Weges zur Industriegesellschaft.

Unser real existierender Sozialismus ist eine prinzipiell andere Ordnung als die in der sozialistischen Theorie von Marx entworfene. Man kann diese Praxis mit jener Theorie vergleichen, aber man darf sie nicht an ihr messen. Sie muß aus ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit erklärt werden. Alle Deformationstheorien von Chruschtschow bis Garaudy lenken nur von dieser Aufgabe ab. Die Analyse führt zu einem allgemeinen Begriff des »nichtkapitalistischen Weges«, der die meisten nominell sozialistischen Länder einschließt, und auf die Suche nach dem Ursprung des nichtkapitalistischen Weges in der Hinterlassenschaft der sogenannten asiatischen Produktionsweise. Darauf basiert die nachfolgende Auseinandersetzung mit dem Fortschritt Rußlands von der agrarischen zur industriellen Despotie und mit dem Schicksal der bolschewistischen Partei in diesem Prozeß. Man muß versuchen, dem historischen Charakter der stalinistischen Herrschaftsstruktur gerecht zu werden. Die politische Geschichte der Sowjetunion handelt nicht vom Versagen, sondern von der Transformation des »subjektiven Faktors« durch die Aufgabe der Industrialisierung Rußlands, der er sich unterziehen mußte. Heute verdeutlichen die neuen Aufgaben – und nicht irgendwelche politisch-moralischen Prinzipien – den Anachronismus der alten Partei.

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