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Die unterschiedliche Anziehungskraft eines vereinten Europas (25. September 1987)

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Der Gemeinsame Markt, Motor und Garant des Wohlstands und der sozialen Sicherheit der Europäer, hat eine Anziehungskraft gewonnen, die weit über das Europa der Zwölf hinauswirkt. Schon die Ankündigung des Delors-Planes hat dazu geführt, daß die Mitglieder der europäischen Freihandelszone Efta (Schweden, Finnland, Norwegen, Island, Österreich, die Schweiz und Liechtenstein) ihre Zusammenarbeit mit der EG vertiefen wollen, um wie es heißt, die „Schaffung eines homogenen und dynamischen Wirtschaftsraumes“ zu gewährleisten. In Wien ist letzthin sogar schon darüber diskutiert worden, ob Österreich der Europäischen Gemeinschaft beitreten könnte und sollte. Und die Norweger, die vor 15 Jahren den EG-Beitritt in einer Volksabstimmung abgelehnt hatten, machen sich mit dem Gedanken vertraut, daß diese Entscheidung noch einmal überdacht werden sollte. Die Ausstrahlung des Gemeinsamen Marktes wird auch an Blockgrenzen nicht gebrochen. Seit Gorbatschows Amtsantritt bemüht sich der östliche „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) verstärkt darum, diplomatische Beziehungen mit der EG aufzunehmen; zweiseitige Gespräche über Handelsverträge mit der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn sind im Gange.

Der Abbau von Handelshindernissen und Zollschranken sowie die Angleichung von Normen, kurz eine Ausweitung des Binnenmarktes – das liegt im Interesse der Konsumenten und Produzenten und sollte deshalb gefördert werden. Doch das Modell einer immer breiter werdenden wirtschaftlichen Integration taugt nicht für die Politik. Die Vorstellung der fünfziger Jahre, eine zunehmende Verflechtung der westeuropäischen Volkwirtschaften werde unweigerlich auch zur politischen Einheit Westeuropas führen, hat sich als Fehleinschätzung erwiesen. Nach drei Jahrzehnten, in denen „Europa“ dreimal neue Mitglieder aufgenommen hat (1973 Großbritannien, Irland und Dänemark; 1981 Griechenland; 1986 Spanien und Portugal) scheint sich eher das Wort des Dichterfürsten zu bestätigen, daß getretener Quark breit, aber nicht stark werde. Dabei ist es müßig, „Schuldige“ zu suchen: Je mehr Mitglieder es gibt, desto mehr Interessen fließen in die Entscheidungsprozesse ein; je größer das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Mitgliedsländern, desto unterschiedlicher werden diese Interessen.

Der Glaube, aus der Zwölfergemeinschaft könne in einem absehbaren Zeitraum eine handlungsfähige politische Einheit werden, ist eine Illusion. Der Weg zu jener Gemeinsamkeit in der Sicherheits- und Außenpolitik, die in den vergangenen Monaten immer wieder gefordert worden ist, kann nicht durch das Brüsseler Gestrüpp führen. Jetzt kommt es darauf an, daß jene Regierungen vorangehen, die die Zeichen der Zeit verstanden haben. Die anderen müssen sich dann überlegen, ob sie einem Europa, das sich politisch definiert, angehören wollen oder ob sie sich mit den wirtschaftlichen Vorteilen eines gemeinsamen Marktes begnügen.



Quelle: Günther Nonnenmacher, „Zweimal Europa“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. September 1987.

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