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Europäische Integration und nationale Interessen (1962)

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3. Die Bundesrepublik Deutschland

Die Bundesrepublik Deutschland tritt seit Anbeginn grundsätzlich für ein integriertes Europa ein, ein Grundsatz, der bereits 1948 im Grundgesetz verankert und durch die schlimmen Erfahrungen mit nationalistischen Ideen in zwei verlorenen Weltkriegen gefördert wurde. Sie bedauert, daß durch die Haltung des Generals de Gaulle der Integrationsgedanke einen Aufschub erfährt; sie respektiert die bezüglichen Auffassungen de Gaulles, ohne sie zu teilen, und hofft und vertraut darauf, daß das Europa der Staaten schließlich doch zu einer Konföderation führen wird, eine Möglichkeit, die auch de Gaulle nicht ausgeschlossen hat. Sie bereitet dem Beitritt Großbritanniens zur EWG keinerlei Schwierigkeiten, sondern unterstützt ihn. Sie sucht aber alles zu vermeiden, was das bisher Erreichte und vor allem die für sie so wertvolle Verankerung der Freundschaft mit dem früheren „Erbfeind" Frankreich in der Europäischen Gemeinschaft in Frage stellen könnte. Sie wendet sich gegen eine Aufblähung der EWG vor allem durch den Beitritt nichteuropäischer Staaten aus rein wirtschaftlichen Gründen, da dadurch der politische Gehalt der Europäischen Union, den sie als das Wesentliche ansieht, gefährdet würde. Sie legt den größten Wert darauf, die Atlantische Allianz voll und ganz zu erhalten, da es ihrer Meinung nach eine westliche Politik und eine Verteidigung Westeuropas ohne die USA nicht geben kann. Dies gilt in besonderem Maße im Hinblick auf die Berlin-Frage und das Deutschland-Problem insgesamt. Sie billigt die amerikanisch-sowjetischen Sondierungsgespräche, wünscht aber, daß eine etwaige Neuregelung der Frage der Zugangswege nach Berlin und von damit in Zusammenhang stehenden Fragen die primäre Verantwortung der Vier Mächte aufrechterhält und alles vermeidet, was als eine de facto- oder gar de jure- Anerkennung der Sowjetzone angesehen werden könnte. Sie ist auch gegen Rüstungsbeschränkungen, die nicht allgemein, sondern nur für Deutschland oder nur für einen begrenzten Bereich Geltung haben würden. Ihre Wünsche im Hinblick auf Informationen, gewisse Mindestgarantien und ein bestimmtes Mitspracherecht betreffend die nicht-NATO-eigene nukleare Abschreckungsmacht wurden bei der NATO-Ministerratstagung in Athen 1962 im wesentlichen erfüllt.

4. Großbritannien

Großbritanniens Entschluß, sich um die Mitgliedschaft bei der EWG zu bewerben, der in erster Linie auf wirtschaftlichen Erwägungen beruht, wurde politisch erst tragbar, als klar wurde, daß das Beharren de Gaulles auf einem Europa der Staaten (Regierungen) den Verfechtern eines integrierten Europas keine Chancen mehr für eine baldige Verwirklichung ließ. Die übernationalen Elemente in den Verträgen von Paris (EGKS) und Rom (EWG), nämlich Hohe Behörde bzw. Kommission und Abstimmungsregeln betreffend die Beschlüsse des Ministerrates, waren das Äußerste, was Großbritannien in dieser Hinsicht — zumindest gegenwärtig — als annehmbar erschien, zumal sich diese übernationalen Elemente nur auf Wirtschaftliches beziehen. Ist Großbritannien erst einmal Mitglied, so bedarf es zu jeder Ausweitung der Übernationalität — wie überhaupt zu jeder Vertragsänderung — seiner Zustimmung. Großbritannien betont, daß es zu Europa gehöre und fest entschlossen sei, an der politischen, also nicht nur an der wirtschaftlichen, Konsolidierung und Gestaltung Europas aktiv und positiv mitzuwirken. Es tritt aber stets für eine pragmatische und nicht dogmatische Methode bei der Konstruktion Europas ein. Dieser Unterschied in der Methode war auch das wesentliche Thema der zahlreichen jahrelangen, seit 1950 stattfindenden Debatten im Europarat, bei den Verhandlungen über die Errichtung einer Europäischen Freihandelszone, und schließlich der Grund für die Schaffung der EFTA. So hat General de Gaulle durch seine ebenfalls pragmatische Haltung, die ganz im Gegensatz zu den Anschauungen und Konzepten der früheren französischen Regierungen steht, wesentlich zu dem Entschluß Großbritanniens beigetragen, sich um die Mitgliedschaft bei der EWG zu bewerben, obwohl er seinerseits diesen Beitritt nicht allzu gerne sieht. Großbritannien hat sich bereiterklärt, den Vertrag von Rom vollständig anzunehmen. Es wünscht aber, daß im Rahmen des Vertrages durch Sonderbestimmungen, wie sie auch zu Gunsten anderer EWG-Mitglieder bestehen, auf seine präferenziellen Handelsbeziehungen zum Commonwealth und auf die Besonderheiten seiner Landwirtschaft Bedacht genommen wird. Es wünscht ferner, daß auch für seine EFTA-Partner eine befriedigende Lösung gefunden wird, da es versprochen hat, diese nicht im Stich zu lassen. Großbritannien ist mit den amerikanisch-sowjetischen Sondierungsgesprächen und mit dem Standpunkt der USA in der Berlin- und Deutschlandfrage voll einverstanden.

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Quelle: „Die Meinungsverschiedenheiten über die Konstruktion Europas“, Archiv der Gegenwart, 19. Mai 1962,
S. 9867-68.

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