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Europa als Heimat (Rückblick, 2004)

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Zwischen den historischen Daten muss man die Gesichter der Menschen sehen, die in diesen Zeiten bitteren Elends gelebt haben. Wir hatten unter der Grenzlage und Frankreichs Zug zum Rhein zu leiden. Jede Generation errichtete neue Kriegerdenkmale und Soldatenfriedhöfe. Die Menschen haben daraus ein besonderes Lebensgefühl entwickelt. Sie sind den Freuden des Daseins nicht ab- und dogmatischem Denken nicht zugeneigt. Wir Pfälzer haben unseren Freiheitssinn, haben ein gesundes Misstrauen gegen Ideologen und Ideologien – der Mensch ist wichtiger als alle Ideologie. Leben und leben lassen, lautet das pfälzische Toleranzprinzip, und Offenheit und Lebensart der Pfalz hängen sicher auch zusammen mit dem mediterranen Klima und französischen Einflüssen.

Das Hambacher Fest vom Mai 1832 steht bis heute für den Aufbruch der deutschen Demokraten. Damals kamen auf der Maxburg oberhalb von Hambach bei Neustadt in der Pfalz rund dreißigtausend Menschen zusammen, darunter auch Polen und Franzosen, und forderten ein freies, geeintes Deutschland und einen Bund der europäischen Nationen. Die Redner ließen das gemeinsame und freiheitliche Europa begeistert hochleben. Die wenigsten Deutschen wissen heute, dass damals auf dem Hambacher Schloss unsere schwarzrotgoldene Nationalfahne zum ersten Mal als Symbol für Demokratie und Vaterland flatterte. Während meiner Zeit als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz habe ich später eine Originalfahne von 1832 über dem Plenarsaal des Landtags in Mainz aufhängen lassen.

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Wichtig war für mich vor allem, geistig auf dem Boden der Heimat zu stehen. In Ludwigshafen bin ich aufgewachsen, in der Pfalz habe ich meine ersten Schritte getan und meine elementaren Erfahrungen gesammelt; dort wird immer mein Zuhause sein, dort werde ich begraben liegen. Aus dieser Liebe zur Heimat habe ich viel von meiner Kraft geschöpft. Die Verbundenheit mit den Wurzeln, beispielsweise auch bei Konrad Adenauer mit dem Rheinischen oder bei Theodor Heuss mit dem Schwäbischen, wirkt elementar. Regionales Bewusstsein ist nicht provinziell. Johann Wolfgang von Goethe wurde wegen seines Frankfurter Dialekts in Weimar kaum verstanden. Heimat und Vaterland gehören zusammen. Darum sagte ich später oft: Die Pfalz ist meine Heimat, Deutschland ist mein Vaterland, und Europa ist unsere Zukunft.

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Quelle: Helmut Kohl, „Heimat Europa“, in Erinnerungen, 1930-1982. München, 2004, S. 25-29. © 2004/2005 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

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