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Heinrich Böll über die psychologische Auswirkung des Wirtschaftswunders (1960)

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Ein Deutscher zu sein, das bedeutet in einem Pariser Hotel: bedroht zu werden, weil man einer ist und auf der Rückfahrt im D-Zug einem jungen französischen Faschisten gegenübersitzt, der einem Komplimente zu machen versucht über die Konsequenz, mit der hierzulande den Antisemitismus betrieben hat; es bedeutet, nicht als mitsprachefähig betrachtet zu werden, wenn Franzosen unter sich über Algerien sprechen; vielleicht darf man erst mitsprechen, wenn in Algerien soviel Menschen umgebracht worden, wie zwischen 1933 und 1945 unter deutscher Herrschaft in Europa getötet worden sind. Wer führt dieses geheimnisvolle Konto der Nationen? Wer reguliert den Preis für ein Menschenleben? Wird es morgen ein Blick sein? Die dunkle Börse, die diesen Kurs diktiert, wo wird sie betrieben? Die Bedrohung im Pariser Hotel wendet sich natürlich genau gegen den Deutschen, der die Handvoll Kartoffeln in das Versteck des Juden brachte, und der englische Zollbeamte nimmt wie den Ausweis eines Aussätzigen den Paß genau des Deutschen in seine zarten Finger, der die Denunziation nicht weitergab. Wenn es Ansätze von Kollektivschuld in diesem Land gäbe, dann von dem Augenblick an, wo mit der „Währungsreform“ der Ausverkauf an Schmerz, Trauer und Erinnerung anfing.

Schrecklich ist es, daß es Anlässe genug gibt, über dieses Land und in ihm zornig zu werden, aber an wen den Zorn adressieren? Sie schlucken alles; man könnte ihnen auf dem Fernsehschirm vielleicht bei der Reportage über einen Verkehrsunfall zeigen, wie ihr eigener Nachbar stirbt; sie würden stutzen, möglicherweise noch sagen: „Den kenn' ich aber doch?“ und schon auf das nächste Bild warten. Bei einer nächsten Währungsreform könnte man ihnen ihr Geld 100 = 0,1 aufwerten, das Vermögen der Schlauen dann entsprechend höher; sie würden seufzen, ein wenig schimpfen, aber dann bald schon die Ärmel aufkrempeln und schuften, schuften; auf diese Weise kann man noch einige Wunder zustande bringen und braucht nicht zu fürchten, daß sich einer über die Unbekannte in der Gleichung aufregen würde. Die Umkehrung der wunderbaren Brotvermehrung ist der wunderbare Brotraub. Die Gesichter der Fachleute, die das Wunder mit glatten Worten zu erklären vermögen, sind so leer und tot wie der Mond.

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Quelle: Heinrich Böll, „Hierzulande“ (1960).

Aus: Heinrich Böll. Werke. Essayistische Schriften und Reden, Bd. 1, 1952-1963.
© 1979 by Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln. S. 366-75.

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