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Protestbewegung vermeintlich am Ende (15. März 1975)

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Dennoch: Die manchmal geradezu hektische „Aufgeschlossenheit" für die Probleme der Zeit und des Tages sollten nicht ohne nachhaltigen Eindruck bleiben. Handelte es sich doch bei der Mehrzahl der angesprochenen Probleme keineswegs um Hirngespinste von Schwarzsehern oder Hysterikern, sondern um Überlebensfragen der Menschheit. Es war zweifellos nicht überflüssig, immer wieder mit Nachdruck auf die Fehler und Schwächen unseres Systems hinzuweisen, auf die drohenden Hungerkatastrophen, auf die psychischen Gefährdungen, auf die Situation der dritten Welt, auf den selbstzerstörerischen Rüstungswettlauf und anderes mehr. Zwar waren diese Dinge alle nicht neu in dem Sinne, daß nicht jemand zuvor sie auch schon erkannt und – oft präziser – benannt hätte. Daß sie aber öffentlich wurden, daß der Schleier der Gleichgültigkeit zerrissen, die fatale Gewöhnung an Elend, und säkulare Katastrophen manchmal recht drastisch verhindert wurde – dies ist sicherlich das unzweifelbare Verdienst dieser Bewegung. In all dem besteht die originäre moralische und emanzipatorische Leistung der Neuen Linken.

Wie aber wird es weitergehen? Sicherlich ist der vergleichsweise weniger spektakuläre „lange Marsch durch die Institutionen", den wir gegenwärtig erleben, keine von langer Hand und systematisch inszenierte Strategie der Systemüberwindung „auf leisen Sohlen". Daß die Revolution von gestern und heute zum Teil in Rundfunkstudios, Zeitungsredaktionen, Verlagslektoraten, Bildungsinstitutionen, Parteigruppierungen und Verbandsbüros stattfindet, hat zwar einiges mit politischer Strategie, mehr aber noch mit dem transitorischen Status der vorwiegend studentischen Rebellen und der psychologischen Verfassung der Gesamtbewegung zu tun. Nach dem wenig ergiebigen theoretischen Sturmlauf geht es für die meisten nun um die konkrete Anwendung und Bewährung in der Praxis der Systemkritik. Das Wirken im Wohnviertel und am Arbeitsplatz, das soziale Engagement in Lehrlings- und Schülerkreisen, die projektbezogene Kleingruppenarbeit, dies alles rangiert in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung weit vor den Fernzielen der Revolution, wird als wichtiger und bedeutsamer erachtet als umfassende theoretische Analysen und Zeitdiagnosen aus einem Guß.

Was wir gegenwärtig erleben, ist eine neue, noch gänzlich ungewohnte „Bescheidenheit" des politischen Anspruchs, eine Orientierung am jeweils Nächstliegenden, an dem, was für das eigene Leben unmittelbar von Belang ist; eine Konzentration auf das, was politisch gerade noch im Bereich des Möglichen zu liegen scheint.

Diese Rückkehr zur Bescheidenheit kommt nicht von ungefähr. Sie trifft sich mit einer viel allgemeineren Tendenzwende: den „Grenzen des Wachstums", dem unüberhörbaren Appell an die mäßigende Vernunft. Die Energiekrise mit ihren langfristigen Folgewirkungen für das Gleichgewicht der gesamten Weltwirtschaft hat das allgemeine Bewußtsein um die Gefährdung unseres Planeten entscheidend verstärkt: Man ist dabei, zu erkennen, daß der pathologische Zirkel des Rüstungswettlaufs, daß die globalen Rohstoff-, Umwelt- und Ernährungskrisen, daß die Verödung der Städte, die sozialen, kulturellen und psychischen Krisenphänomene, die sich in Neurosen, Rauschgiftsucht, Asozialität, Kriminalität und wachsenden Selbstmordzahlen ausprägen, daß all diese Indikatoren des Zerfalls und der Selbstzerstörung die Menschheit unentrinnbar mit der Überlebensfrage konfrontieren.

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