GHDI logo

Bürgerbewegungen zwischen friedlichem Protest und Gewaltausbrüchen (5. August 1977)

Seite 2 von 5    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Auf die Nerven fallen

Wie dieses Völkchen einteilen, wie einordnen? Am hilfreichsten ist immer noch die einige Jahre zurückliegende Untersuchung des Deutschen Instituts für Urbanistik, das 1400 Bürgerinitiativen unter die Lupe genommen hat. Davon kümmerten sich um Umweltschutz 16,9 Prozent, um Kindergärten und Spielplätze 15,8 Prozent; auf Verkehrsfragen entfielen 11,8 Prozent; es folgen Schule 8,1, Stadtentwicklung 8,0, Randgruppen 7,1 Prozent. Auch rein kommerziell orientierte Initiativen (2 Prozent) tauchten dabei auf. Als besonders konfliktträchtig haben sich Bürgerinitiativen erwiesen, die im Bereich des Umweltschutzes und der Stadtplanung tätig sind. Die meisten anderen Themen dagegen sind nur begrenzt geeignet, Konflikte hervorzurufen. Beim Bau von Kindergärten und Spielplätzen oder bei der Randgruppenbetreuung entsteht zwar mancher Ärger mit der Verwaltung oder mit Parteipolitikern, aber im allgemeinen ist ein vernünftiger Dialog möglich, und oft wird er auch von beiden Seiten gesucht.

Es gibt also eine große Gruppe von Bürgerinitiativen, die auch ängstlichen Anhängern der repräsentativen Demokratie keine Sorge bereiten dürften: Es sind die Organisationen der sozialen Selbsthilfe, die mindestens ein Drittel der Bürgerinitiativen ausmachen. Wer sich bei ihnen ein wenig umhört und umsieht, fühlt sich an die Graswurzel-Demokratie in Amerika erinnert: Selbstbewußte Bürger werden aktiv, und zwar dort, wo die staatliche Großorganisation versagt oder wo sie Fehlentwicklungen produziert. Sehr häufig trifft man in diesen Initiativen intelligente und durchsetzungsfähige Frauen, oft mit einer anspruchsvollen Berufsausbildung.

Natürlich fallen auch diese Initiativen den etablierten Institutionen hie und da auf die Nerven – durch Hartnäckigkeit oder Sachverstand, manchmal auch durch Gruppenegoismus und Unbelehrbarkeit. Insgesamt aber sind sie ebenso notwendig wie hilfreich. Eine Administration, die jede Verästelung des Sozialstaats reglementieren will, gerät – die letzten Jahre haben es gezeigt – schnell an ihre finanziellen und organisatorischen Grenzen; und sie erstickt die Menschlichkeit. Wo Bürgerinitiativen solche Aufgaben, die vom Staat weder vollständig gelöst werden könnten noch sollten, aufgreifen, kann man ihnen eigentlich nur dankbar sein. Unlösbare, grundsätzliche Probleme entstehen dabei nicht. Gleichwohl haben auch diese Bürgerinitiativen ihre Sorgen. Auch sie streift nun der Verdacht, Teil jener neuen, gewalttätigen Volksbewegung zu sein. Die Stimmung gegenüber Bürgerinitiativen ist feindselig geworden; die Zusammenarbeit mit Verwaltung und Parteien wird schwieriger. Förderer und Spender haben sich zurückgezogen.

Von Gewaltanwendung sind die Organisationen der sozialen Selbsthilfe sehr weit entfernt, und eine Volksbewegung sind sie gewiß nicht in dem Sinne, daß sie durch ein gemeinsames, großes Ziel vereint wären. Auch viele andere Initiativen, die etwa gegen eine Straßenführung oder gegen eine Stadtplanung rebellieren, die gegen diesen oder jenen lokalen oder regionalen Mißstand zu Feld ziehen, sind kaum unter die Volksbewegung zu rechnen. Allerdings ist bei ihnen der Unwille über die Administration und die etablierten Parteien so deutlich, daß man schon von einer verbindenden, gemeinsamen politischen Motivation sprechen kann.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite