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Verfassungsrechtliche Implikationen der Anti-Atomkraft-Bewegung (3. November 1976)

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Dafür kümmern sich die organisierten unentwegten Kommunisten. Sie mischen sich als Grüppchen unter Tausende von Demonstranten jeder Art. So konnte die Pressestelle der Nordwestdeutschen Kraftwerke leicht verbreiten, die Demonstration sei von militanten Kommunisten „von langer Hand vorbereitet" worden, und die Sicherheitsorgane stellten prompt die Anwesenheit von 150 Kommunisten unter 5000 Demonstranten fest: Den Sprechern der gewaltlosen „Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe“ – einem Pastor aus Bremen und einem ortsansässigen Bauern (CDU) – nützte es wenig, daß sie sich von diesen Aktivisten distanzierten. Die Kraftwerke AG meldete, die sicherheitstechnischen Vorkehrungen hätten sich angesichts der Radikalen als gerechtfertigt erwiesen, den Bürgerinitiativen sei die Demonstration aus der Hand geglitten, und man erwarte, daß sie hinfort nur mit den Mitteln des Rechtsstaates weiterkämpfen. Indessen wurde der Graben um die Baustelle auf acht Meter verbreitert und mit Stacheldraht ausgelegt, „zum Schutz spielender Kinder“.

Zwei Millionen Mark hat der bisherige Einsatz für die Verteidigung der Baustelle gekostet. Sie werden eines Tages zu den vielen Millionen an Investitionen für den ersten Bauabschnitt hinzugerechnet. Diese Geldmengen werden wiegen, wenn ein Gericht über Klagen zu befinden hat oder Behörden entscheiden müssen, ob der nächste Bauabschnitt begonnen werden darf. Solche Politik der vollendeten Tatsachen und einbetonierten Millionen, die den Rechtsstaat in allen seinen Instanzen erst ausnützt und dann ohnmächtig macht, ist es, was die Bürgerinitiativen auf den Plan ruft. Wie schwer sie es haben, gegenüber industrialisierungssüchtigen Regierungen, geschäftstüchtigen Stromerzeugern und arbeitsplatzberauschten Gewerkschaften den Gerichten noch etwas Spielraum zu erkämpfen, hat der Fall Wyhl gezeigt.

Wenn dann noch Kommunisten unter den Demonstranten sind, nehmen Firmen und Behörden dies gern zum Anlaß, eine demokratisch erlaubte Meinungsäußerung ohne weitere Argumente zu diskreditieren. Zu fragen wäre einmal, ob Kommunisten in unserem Land der fabelhafte Sauerteig sind, der – in kleinen Spuren eingemischt – jede Protestaktion versammelter Demokraten irrelevant macht. Ministerpräsident Stoltenberg hat den Landtag in Kiel aufgefordert, sich darüber zu freuen, daß durch den Polizeieinsatz im Morgengrauen bei Brokdorf ein rechtsstaatliches Verfahren gesichert wurde.

Wenn Regierungschefs angesichts der Unruhe in ihren Bevölkerungen wegen der Bedrohung durch einen Kernkraftwerkbau bei ungeklärten Folgen nichts anderes einfällt als diese naive Lust am Rechtsstaat, dann ist es Zeit für die Parlamente, sich in der Kernenergiefrage endlich mehr Rechte zu sichern. Die Bevölkerung ist nicht mehr so einfältig, sich das Märchen von der drohenden Energielücke immer wieder erzählen zu lassen, während bei Fragen nach der Lagerung der radioaktiven Abfälle die Chemieindustrie ihr Desinteresse erklärt, die Elektrizitätsgesellschaften sich nicht verantwortlich fühlen und die Regierungen mit dem Genehmigungsstop für weitere Kernkraftwerke immer nur drohen.



Quelle: Christian Schütze, „Kernkraft spaltet den Rechtsstaat“, Süddeutsche Zeitung, 3. November 1976.

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