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Österreichische Denkschrift (1863)

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Diese Wahrheiten, beklagenswerth wie sie sind, würden doppelt gefährlich sein, wenn man die Augen vor ihnen verschließen oder sich ihnen wie einem unabänderlichen Verhängniß ohne einen entschlossenen Versuch der Abhilfe unterwerfen wollte. Weise Regierungen werden allerdings nicht freiwillig einen Augenblick der Gefahr und Krisis wählen, um an den Resten einer zwar wankend gewordenen, aber noch nicht durch neue und vollkommenere Schöpfungen ersetzten Rechtsordnung zu rütteln. Aber fast wie Ironie müßte es klingen, wollte man diesen an sich richtigen Satz auf den Status quo der deutschen Bundesverhältnisse anwenden. Dieser Status quo ist schlechthin chaotisch. Der Boden der Bundesverträge schwankt unter den Füßen dessen, der sich auf ihn stellt, der Bau der vertragsmäßigen Ordnung der Dinge in Deutschland zeigt überall Risse und Spalten, und der bloße Wunsch, daß die morschen Wände den nächsten Sturm noch aushalten mögen, kann ihnen die dazu nöthige Festigkeit nimmermehr zurückgeben. Weder Österreich, noch Preußen, noch die übrigen deutschen Staaten können sich mit irgend einem Grade von Vertrauen auf den Bund in seinem jetzigen Zustand stützen. Je deutlicher sie dies erkennen, desto weniger dürfen sie an der vollen Berechtigung des Verlangens nach einer Reform, durch welche das Bundesprincip mit neuer Lebenskraft erfüllt würde, zweifeln. Prüfe man nur mit Unbefangenheit die Stimmen, welche in unseren Tagen diesen Ruf erheben! Sie ertönen heute nicht mehr aus dem Lager der destructiven Parteien; dort wird im Gegentheil jede Hoffnung auf eine gesetzliche Reform der deutschen Bundesverfassung verschmäht und verspottet; denn der Radicalismus weiß, daß seine Ernte auf dem durch keine heilsamere Saat befruchteten Felde reift. Die deutschen Regierungen selbst sind es heute, welche ihr Heil in der Reorganisation des Bundes erblicken. In den Kammern sind es die gemäßigten Parteien, welche zu diesem Ziele mit Ungeduld hindrängen, mit Ungeduld, weil sie fühlen, daß, je länger die Reform hinausgeschoben wird, um so weitergehende Forderungen sich hervorwagen und im Volksgeiste Unterstützung finden werden. Es ist der Trieb der Selbsterhaltung, welcher den Regierungen und den Kammern diese Richtung zeigt. – Österreich und Preußen aber sollten nicht bloß um ihrer deutschen Verbündeten willen einem so gerechten Verlangen entgegenkommen, sondern auch im eigenen Interesse sich daran erinnern, daß sie es sich selbst und der Welt schuldig sind, die größten Anstrengungen und Opfer nicht zu scheuen, um den Bund, der das Centrum Europa's bildet, in lebensfähigem Zustande zu erhalten.

Was Österreich betrifft, so ist es sich über diesen Punkt vollkommen klar geworden. Die kaiserliche Regierung ist mit festem Willen, wenn auch mit jener äußersten Vorsicht, die ihren Grundsätzen und Traditionen entspricht, an die Frage der Ausbildung der Bundesverfassung und besonders an die schwierige Aufgabe, die gesetzgebende Gewalt des Bundes zu organisiren, herangetreten. Sie hat den folgenreichen Schritt, die Vertretungen der Einzelstaaten zur Theilnahme an den Bundesangelegenheiten zu berufen, zunächst nur in der Form einer vorübergehenden Maßregel, eines erst durch die Erfahrung zu bewährenden Versuchs in Vorschlag gebracht. Erst die Ablehnung ihres Antrags auf eine Delegirtenversammlung ad hoc hat sie genöthigt, um so entschiedener ihre Mitwirkung zu einer organischen Reform in Aussicht zu stellen. Seitdem ist Österreichs Wort für ein ernstes Streben nach diesem Ziele verpfändet, und der Kaiser fühlt sich gedrängt, dieses Versprechen einzulösen. Der Kaiser hat dem eigenen Reiche zeitgemäße Institutionen verliehen. Er erkennt vollkommen an, daß auch die deutsche Nation in ihrer Gesammtheit mit Recht eine Neugestaltung ihrer politischen Verfassung erwartet, und Er hält es als Fürst des Bundes für Pflicht, Seinen Mitfürsten offen darzulegen, was Er in dieser Beziehung für möglich hält und für Seinen Theil zu gewähren bereit ist.

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