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Die Prinzipien der „Sozialen Marktwirtschaft” (19. Dezember 1962)

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Eine Verständnisschwierigkeit ergab sich durch die Nähe zum Neoliberalismus. So ist es nicht unverständlich, aber doch eben unzutreffend, wenn z. B. der Dominikanerpater Dr. Nawroth in seiner umfassenden Analyse der philosophischen Grundlagen des neuen Liberalismus* die Soziale Marktwirtschaft als bloße Abart des Neoliberalismus betrachtet. Man braucht die Nähe zum Neoliberalismus keineswegs zu leugnen; wir verdanken ihm zahlreiche entscheidende Anregungen, aber gegenüber einem den Wettbewerbsmechanismus als ausschließliches Gestaltungsprinzip betrachtenden Neoliberalismus ist der Gedanke der Sozialen Marktwirtschaft aus anderen Wurzeln entstanden. Sie liegen in der in den zwanziger Jahren entwickelten dynamischen Theorie, in der philosophischen Anthropologie der zwanziger Jahre, in einer anderen Auffassung vom Staat und in einer Weiterführung des vom Neoliberalismus meist abgelehnten Stilgedankens. Die koordinierten Funktionen der Sozialen Marktwirtschaft liegen nicht ausschließlich in den mechanischen Regeln des Wettbewerbs. Die Gestaltungsprinzipien beziehen sich auf Staat und Gesellschaft, die beide ihre Wertvorstellungen und Verantwortungen im Gesamtsystem der Sozialen Marktwirtschaft ausprägen.

Die Soziale Marktwirtschaft ist keine ausschließliche Wettbewerbstheorie; sie mag am ehesten als Stilbegriff bezeichnet werden, in dem Sinn, daß in der Sozialen Marktwirtschaft eine stilhafte Koordination erstrebt wird zwischen den Lebensbereichen des Marktes, des Staates und der gesellschaftlichen Gruppen. Ihr Ansatz ist daher ebenso sehr ein soziologischer wie ein ökonomischer, ein statischer wie ein dynamischer. Es ist ein dialektischer Begriff, in dem die gesellschaftlichen Zielsetzungen ein entsprechendes Gewicht gegenüber den ökonomischen besitzen, der also Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in einem umfaßt.

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Betrachten wir diese Aufgabe etwas genauer. Unsere Gesellschaft ist ein Gesamt, in dem die einen Gruppen mehr ihre Freiheit, die anderen mehr ihre soziale Sicherheit erstreben, in der alle am Wachstum interessiert sind, aber auch nur in dem Maße, in dem ihre persönlichen Lebenskreise nicht allzusehr gestört werden. Wir können geradezu, wie es in der Geld- und Außenhandelstheorie häufig geschieht, von einem magischen Dreieck sprechen, dessen Ecken durch die Ziele persönliche Freiheit, wirtschaftliche und gesellschaftliche Sicherung und Wachstum bezeichnet sind. Diese widerstreitenden Ziele haben in der Vergangenheit eine gesellschaftliche Konfliktsituation hervorgerufen dadurch, daß eines sich auf Kosten der anderen durchzusetzen versuchte. Das führte zu extremen Gestaltungen radikal liberaler oder radikal interventionistischer Gesellschaftsziele, oder aber zu dem Ausweg des starren Beharrens im Überlieferten oder auch der systemlosen Vermischung aller Prinzipien, wie sie sich im Interventionismus darbot.

Soziale Marktwirtschaft ist keine Philosophie über das Wertfundament unserer Gesellschaft. Dies überläßt sie dem vom Religiösen oder Philosophischen her urteilenden Normensystem. Sie ist vielmehr ein irenischer Ordnungsgedanke, eine strategische Idee innerhalb des Konflikts verschiedener Zielsituationen. Sie ist eine Stilformel, durch die versucht wird, die wesentlichen Ziele unserer freien Gesellschaft zu einem neuen, bisher in der Geschichte noch nicht realisierten, praktischen Ausgleich zu bringen.



* Egon Edgar Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus (Sammlung Politea. Veröffentlichungen des Internationalen Instiuts für Sozialwissenschaften und Politik. Universität Freiburg/Schweiz. Hrsg. von F. A. Utz, Bd. 14). Heidelberg: Löwen, 1961.

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