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Bildung und sozialer Aufstieg (1982)

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Obwohl die fachspezifische Ausbildung den Vorrang hat, wird die Allgemeinbildung nicht total vernachlässigt. Wer beispielsweise einen Meisterabschluß macht, muß mindestens fünf schöngeistige Bücher gelesen haben und darüber Auskunft geben können, zwei des »kulturellen Erbes«, drei der Gegenwart. Die geforderten Titel wechseln von Zeit zu Zeit.

Kenntnisse und Fertigkeiten sind auch Tauschobjekte, das ist ganz offensichtlich im technischen Bereich. Wer etwas konstruieren oder reparieren kann, hat eine »Ware« zu bieten. Gleiches gilt für Beratungen aller Art. Normalerweise steigen mit dem Bildungsgrad die Einkünfte. Doch nicht in jedem Fall ist ein sozialer Aufstieg auch ein finanzieller. Ein Setzer verdient mehr als einer, der sich zum Lehrausbilder für Setzer qualifiziert hat, ein Bauarbeiter kann mehr ausgezahlt bekommen als ein Bauingenieur, ein Universitätsabsolvent wird in jedem Fall schlechter bezahlt als ein Fensterputzer. Diese Diskrepanzen im Lohngefüge und eine allgemeine Staatsverdrossenheit halten einen Teil der jungen Leute davon ab, nach weiterer Bildung zu streben. Erfahrungsgemäß hält diese Müdigkeit nicht jahrelang an. Bald nach der Eheschließung, dem Einrichten der Wohnung und dem ersten Kind entschließt sich einer der Partner zur Weiterbildung. Qualifiziert sich der Mann zum Ingenieur, will die Frau wenigstens ihren Meister machen Ein geflügeltes Wort von jungen Frauen: »Jetzt bin ich mal dran.« Der Ausbildungsgrad ist das Markenzeichen einer Familie. Die Profession der Frau zählt mit, sie wird meist aufmerksamer bewertet, weil das Rückschlüsse auf Lebenshaltungen zuläßt. Beim Vorstellen in Gesellschaften wird grundsätzlich der Beruf beider genannt, meist dazu die Arbeitsstelle und die Art der Tätigkeit: Frau Meier, Brigadierin im Fernmeldewerk, Herr Meier, Teilkonstrukteur im Baukombinat. Der Beruf ist Anknüpfungspunkt für Gespräche, die Aus- und Weiterbildung ist nach dem Warentausch häufigstes Thema der Unterhaltungen.

Das staatlich geförderte Bildungsstreben birgt Gefahren für den Staat. Wer besser Bescheid weiß, bringt sein Wissen zwar »zum Nutzen der Gesellschaft« ein, beurteilt gesellschaftliche Prozesse jedoch kritischer. Durch erweitertes Wissen werden Ansprüche geboren, sind die Auseinandersetzungen sachkundiger, also komplizierter. Die Verbitterungen der Kundigen, die sehr oft erleben, daß Entscheidungen nicht nach fachlichen Gesichtspunkten getroffen werden, nehmen zu. Proportional zum Wissen steigen Kritik und Unruhe. Was sich daraus entwickelt, ist nicht abzusehen. Jedoch stellt niemand den Wert von Kenntnissen und Fertigkeiten in Frage, sie sind das sicher angelegte Kapital jedes einzelnen.



Quelle: Irene Böhme, Die da drüben. Sieben Kapitel DDR. Berlin (West), 1982, S. 75-79.

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