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Das Ende der Nachkriegsgeschichte? (18. Oktober 1963)

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Aber welches Bild des öffentlichen Lebens stellt sich uns heute dar? Wir laufen Gefahr, daß der produktive Elan unserer Gesellschaft zunehmend dem Genuß des Erreichten weichen will. Eine oft ausschließlich materiell bestimmte Grundhaltung weiter Kreise der Bevölkerung charakterisiert die Lage 18 Jahre nach Beendigung der größten Katastrophe deutscher Geschichte. Aus diesem Grunde bedeutet es eine wesentliche Aufgabe aller verantwortungsbewußten Kräfte im Lande, jenen Leistungswillen, der uns gerettet hat, für alle Zukunft wachzuhalten. Wie noch deutlich zu machen sein wird, müssen wir damit aufhören, unsere Kräfte und Mittel jeweils nur an speziellen und individuellen Forderungen auszurichten, sondern wir müssen das Ganze bedenken und alles Handeln an gemeinsamen Zielen messen.

Ich bin gewiß, einer Sorge und zugleich einem Verlangen des deutschen Volkes Ausdruck zu geben, wenn ich Regierung und Parlament mahne, über Interessentenwünsche hinweg sich entschiedener den prinzipiellen Fragen der Politik zuzuwenden. Vor allem junge Menschen wollen nach übergeordneten Werten und Maßstäben handeln. Sie erwarten, daß sich auch der Staat an diese Maxime hält. Unsere Jugend will vor Aufgaben gestellt werden! Je bewußter und wahrhaftiger wir sie darauf ansprechen, um so besser wird es uns gelingen, sie von dem falschen Weg des nur Geld-verdienen- und Versorgt-sein-Wollens abzubringen.

Bemühen wir uns darum auch, jedwede Forderung an den Staat nicht vorschnell mit dem Wort „sozial" oder „gerecht" zu versehen, wenn es in Wahrheit nur zu oft um partikuläre Wünsche geht! Verschließen wir die Augen nicht vor der Tatsache, daß dem entwickelten Engagement für das Private und für das Gruppeninteresse zunehmend ein Defizit an Bürgersinn gegenübersteht! Das ist um so gravierender, als die Bundesrepublik ihren Bürgern ein ungewöhnliches Maß an Freizügigkeit in ihren privaten Tätigkeiten zugesteht und ihnen den großen Respekt vor dem Wert individueller Entfaltung bezeugt.

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Wenn darum im politischen Leben dem Staat die Sorge um Verteidigung und Sicherheit aufgetragen ist, wenn er Bildung, Forschung und Gesundheit fördern soll, wenn er für Reinhaltung der Luft und des Wassers sorgen, die Verkehrsverhältnisse ordnen, den Wohnungsbau fortführen soll, wenn ihm zunehmend höhere soziale Leistungen abverlangt werden und der Ruf nach Subventionen und Beihilfen gewiß nicht schwächer wird, dann muß der Staatsbürger begreifen, daß er damit im letzten Grunde sich selbst anspricht. Aus solcher Sicht spiegelt die Anklage, der Staat bezeuge zu wenig Verständnis und leiste zu Geringes, nur die mangelnde Einsicht des Staatsbürgers wider. Es gibt keine Leistungen des Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen.

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