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Die zweite Einwanderergeneration spricht sich für gegenseitige Akzeptanz aus (13. Mai 1982)

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Für die zweite Ausländergeneration gilt dagegen: Ein krasser Abbruch vom Kultur- und Gemeinschaftsleben des eigenen Volkes würde die sozialen und psychologischen Probleme dieser Jugendlichen weiter verschärfen, weil sie keinen Ersatz, keinen Rückhalt und keine Aufnahme in der deutschen Gesellschaft finden können. Sie sollten nicht gezwungen werden, ihre Abstammung abzulehnen. Nur dann kann eine „Selbstdynamisierung“ des Integrationsprozesses erreicht werden, weil die ausländischen Jugendlichen, die den sozialen Durchbruch geschafft haben, selbst als Problemlöser und Integrationsführer wirken können: als ausländische Sozialarbeiter, ausländische Meister am Arbeitsplatz usw.

Maßnahmen und Institutionen zur Gewinnung einer neuen Identität in diesem Sinne zu entwickeln und einzuführen ist jedoch unser Problem und erfordert unsere Initiative als Ausländer und nicht die Initiative der Deutschen. Ich halte die Schulmodelle, die das doppelte Ziel verfolgen: die Integration in die deutsche Gesellschaft und gleichzeitig Reintegration in die türkische Gesellschaft ermöglichen wollen, für unrealistisch und irreführend.

Was haben wir Ausländer bisher versäumt? Wir haben versäumt, gemeinschaftliche Selbstinitiativen zu entwickeln und Problemlösungen durch eigene Kraft anzustreben:

• Wir haben versäumt, uns in großen Institutionen zu organisieren, die als Bildungsstätten im weitesten Sinne fungieren und die Mängel der bestehenden deutschen Institutionen auszugleichen, Konflikte mit der Umwelt zu lösen, die türkische Bevölkerung zu mobilisieren und eine neue Identität zu erzeugen versuchen.

• Wir haben die Richtung der politischen Betätigungen verfehlt. Die Aktivisten der türkischen Bevölkerung haben eine politische Szene von unzähligen politischen, religiösen und stammesmäßigen Splittergruppen geschaffen, die sich fast ausschließlich nach dem Muster der türkischen politischen Kultur richten, sich mit den politischen Problemen der Türkei befassen und eine eher integrationshemmende Wirkung haben.

Eine der wichtigsten Ursachen derartiger Entwicklung ist sicherlich der Ausschluß der Ausländer von politischer Teilnahme, vom politischen Willensbildungsprozeß und von gesellschaftlichen Entscheidungen.

Die Mehrzahl unserer Intellektuellen und Wohlhabenden, die selbst durch ihren erreichten Sozial- und Bildungsstand eine wichtige Rolle in der Selbstorganisation und Eingliederung hätten spielen können, haben versäumt, sich den Problemen des eigenen Volkes zuzuwenden. Es ist sehr bitter, eingestehen zu müssen, daß sie eher darauf bedacht sind, sich von ihrem Volk zu distanzieren und von ihm nichts mehr wissen wollen.

Erst wenn die entsprechenden Bedingungen in unserer Bevölkerungsgruppe geschaffen sind, sähe ich gute Chancen der Zusammenarbeit mit und Unterstützung von fortschrittlichen deutschen Gruppen.

Mit steigenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Arbeitslosigkeit in einem komplexen, für den normalen Bürger undurchschaubaren Wirtschaftssystem sucht ein Teil der deutschen Bevölkerung Schuldige, sozusagen „Sündenböcke“, auf die er seine Aggression richten kann. Türken als von der Zahl her größten und von der deutschen Gesellschaft am meisten sich unterscheidenden Minderheit sind die Zielscheibe der Angriffe geworden. Die neofaschistischen Gruppen sehen ihre große Chance, wieder Fuß zu fassen und in der Manipulation der Existenzangst der Bevölkerung zu gedeihen.

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