GHDI logo

Wachsender Zuzug von Gastarbeiterkindern (8. November 1974)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Für den DGB und die kirchlichen Organisationen zeichnen sich auch noch andere Folgen der neuen Kindergeldregelung ab. DGB-Maier: „Wenn die jetzt verstärkt ihre Familien in die Bundesrepublik nachholen, um in den Genuß des vollen Kindergeldes zu kommen, dann werden wir vor völlig neue soziale Probleme gestellt.“ Auch beim Diakonischen Werk in Stuttgart glaubt man, daß die dann anfallenden Kosten für neue Wohnungen, Kindergärten, Kinderhorte, Schulen und ähnliche Einrichtungen letztlich höher sind als die von der Bundesregierung mit der unterschiedlichen Kindergeldzahlung beabsichtigten Haushaltseinsparungen.

Weniger Freizügigkeit?

Drängen schon jetzt jährlich etwa 70 000 der in der Bundesrepublik lebenden Gastarbeiterkinder nach ihrem Schulabschluß auf den deutschen Arbeitsmarkt, wo die Lehrstellen ohnehin von Jahr zu Jahr knapper werden, so wird sich diese Situation nach Ansicht des DGB künftig eher noch verschärfen. Würden allein alle in Deutschland lebenden Türken ihre Kinder nachkommen lassen, würde diese Nationalitätengruppe um etwa eine halbe Million zunehmen. Da Kinder bis zu 16 Jahren keine Aufenthaltserlaubnis brauchen, hätten die deutschen Behörden kaum eine Möglichkeit, die Familienzusammenführung zu unterbinden. José Moll, Redakteur für das spanische Ausländerprogramm beim Bayerischen Rundfunk, befürchtet, daß angesichts dieser Prognose sich die Bundesregierung sehr wohl veranlaßt sehen könnte, die bis jetzt freizügige Regelung bei der Familienzusammenführung drastisch einzuschränken, was neue menschliche Probleme schaffen würde.

Letzte Konsequenz der neuen Kindergeldregelung: Durch die Familienzusammenführung wird der seit einem Jahr praktizierte Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte wieder unterlaufen, weil nicht nur Jugendliche, sondern auch die mitkommenden Mütter auf den Arbeitsmarkt drängen. Sollten diese Familiennachzügler dann keinen Arbeitsplatz bekommen, so fürchtet DGB-Ausländerreferent Maier, „dann werden sie illegale Arbeiten annehmen.“ Für die beschäftigungslosen Söhne und Töchter von Gastarbeitern sieht Maier noch schwärzer: „Da bildet sich unter Umständen ein kriminelles Reservoir.“

Gleichwohl gibt man sich im Bundesarbeitsministerium „fest überzeugt, daß die Leute jetzt nur aufgeputscht und Emotionen ausgelöst werden, denen aber keine Taten folgen.“ Freilich, Rechtsanwalt Herbert Becher, Bischofsreferent der katholischen Kirche, hat bereits angedeutet, daß das Bundesverfassungsgericht über die Neuregelung des Kindergelds entscheiden sollte, wenn sie von den Parlamenten in Bonn und in den Herkunftsländern der Gastarbeiter ratifiziert werden sollte.



Quelle: Christian Schneider, „Eine Einsparung, die teuer werden kann,“ Süddeutsche Zeitung, 8. November 1974.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite