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Soziologische Analyse der Ausbreitung des Wohlstands (1974)

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Zusammenfassend kann man festhalten: Von 1950 bis 1970 hat sich das Durchschnittseinkommen der Haushalte mehr als vervierfacht. Das häufigste Einkommen lag stets erheblich unter dem Durchschnittseinkommen, was insbesondere durch die große Zahl von Rentnerhaushalten bewirkt wird. Nahezu gleichbleibend bezog die Hälfte aller Haushalte rund ein Viertel des gesamten verfügbaren Einkommens, die Verteilungsdisparität hat sich über diesen Zeitraum nicht verändert. Innerhalb der Einkommensgruppen trat eine Nivellierungstendenz auf, doch ist das Durchschnittseinkommen der Selbständigen-Haushalte erheblich stärker gestiegen als das der übrigen Gruppen. Das Lebenshaltungsniveau wird nicht nur durch das Erwerbseinkommen und die Vermögenserträge bestimmt, es wird durch das Sozialeinkommen ergänzt. Ansprüche aus der Renten-, Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Arbeitslosenversicherung weisen auch jenen Personen Einkommen zu, die vorübergehend oder dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Insbesondere die Höhe der Rentenversicherung beeinflußt die Lebenslage der Bevölkerung und das Konsumniveau. Die Dynamisierung der Renten verhindert ein permanentes Nachhinken der Renten gegenüber der Lohn- und Gehaltsentwicklung und sichert eine ausgeglichenere Lebenshaltung der älteren Menschen. Das sozialpolitische Sicherungssystem hat immer größere Teile der Bevölkerung erfaßt und sichert dem Träger von Rentenansprüchen eine unabhängige Lebensführung auch bei Krankheit und im Alter. Allerdings bleiben die Hausfrauen, die keine Rentenansprüche aus eigener Erwerbstätigkeit erworben haben, auf die Versorgung über die Renten der Ehemänner angewiesen. Sie sind daher auf den Familienverband zur Sicherung der Lebensführung angewiesen. Die Eltern sind für die Sicherung des Alters von den Kindern unabhängig geworden; sie können zum Teil durch Einkommensübertragungen den Aufbau des Haushalts der Kinder unterstützen. Da jedoch die Rentenhöhe an die Höhe der letzten Einkommen gebunden ist, tritt durch diese Sozialeinkommen keine wesentliche Veränderung der Einkommensdisparität zwischen den sozialen Gruppen ein.

Die Lebenslage wird schließlich und zunehmend von der Versorgung mit Leistungen der öffentlichen Hand bestimmt: Bildungschancen, Verkehrs- und Umweltbedingungen, Gesundheitsvorsorge und Freizeitmöglichkeiten sind durch öffentliche Leistungen zu sichern. Ihre Inanspruchnahme ist unabhängig vom Erwerbseinkommen, private Aufwendungen könnten diese Güter auch nicht schaffen. Gerade auf diesem Gebiet ist neuerdings eine breite Diskussion in Gang gekommen. Sie ist charakterisierbar mit den Stichworten: öffentliche Armut und privater Reichtum, Bedürfnisweckung durch öffentliche Angebote von Sozialgütern (insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen), Steigerung der Lebensqualität und Strukturdifferenzierung durch horizontale Versorgungsdisparitäten in der Lebenslage. [ . . . ]



Quelle: M. Rainer Lepsius, „Sozialstruktur und soziale Schichtung in der Bundesrepublik Deutschland“; abgedruckt in Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz, Hg., Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz. Stuttgart, 1974, S. 272-75.

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