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Der Mauerbau aus der Sicht eines neutralen Beobachters (14. August 1961)

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Das Regime Ulbrichts ging nach der Methode der kalten Okkupation vor. Alles wurde einkalkuliert, und das Regime traf umfangreiche Maßnahmen, um einen Aufstand im Keim ersticken zu können. Der Schritt Pankows ist ein friedensgefährdender Bruch internationaler Abkommen, durch den das Gebiet mit über einer Million Einwohner, das völkerrechtlich nicht zum Sowjetblock gehört, sondern Bestandteil der unter der gemeinsamen Verwaltung der vier Mächte stehenden Berliner Sonderzone darstellt, in den kommunistischen Machtbereich eingegliedert wurde. Zum ersten Mal seit dem Prager Putsch von 1948 hat die Sowjetunion wieder ein Stück europäisches Gebiet annektiert. Die drei Westmächte sind durch den Willkürakt direkt herausgefordert; aber auch die Regierung in Bonn ist auf den Plan gerufen, da die am 29. Dezember des vergangenen Jahres getroffene Vereinbarung über den deutschen Interzonenhandel auf Voraussetzung des freien Verkehrs in Berlin beruht.

Versiegen des Flüchtlingsstroms

In der vergangenen Nacht sind 16 Millionen Menschen in der Sowjetzone und in Ostberlin vollständig hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden und in die Nacht der Unfreiheit gestoßen worden. Auch für polnische und tschechoslowakische Bürger sowie für Bewohner anderer osteuropäischer Satellitenstaaten des Sowjetblocks ist das Tor in die Freiheit zugegangen. Westberlin war bisher aufgrund des Viermächtestatus für die Bewohner Osteuropas leichter zu erreichen als das Gebiet westlich der scharf bewachten Grenze des Sowjetblocks. Durch die Maßnahmen der DDR ist die Grenze, die Europa in zwei Hälften trennt, vollständig geschlossen worden. Heute morgen sind hier keine Flüchtlinge mehr eingetroffen. Es gibt kein Ausbrechen mehr aus dem Zuchthausstaat Ulbrichts. Am Wochenende war der Flüchtlingsstrom zu der bisher größten Stärke angeschwollen.

Gleichzeitig mit den Erlassen der DDR wurde eine Erklärung der Regierungen der Mitgliedsstaaten der Warschauer Paktorganisation veröffentlicht, in der die Willkürakte Pankows als Ausführung eines «Vorschlags» der Ostblockstaaten bezeichnet werden. Ulbricht erhält also Rückendeckung von Seiten des gesamten Ostblocks. Es ist klar, daß die Entscheidung über die Eingliederung Ostberlins in die Sowjetzone in Moskau und nicht in Pankow fiel und daß Chruschtschew direkt für den aggressiven Akt verantwortlich ist. In der Erklärung der Warschauer-Pakt Staaten wird ausgeführt, daß die Sperrmaßnahmen den Verkehr zwischen Westberlin und Westdeutschland nicht berührten und daß die «Notwendigkeit dieser Maßnahmen fortfällt, sobald die Friedensregelung mit Deutschland verwirklicht ist». Die «Eingemeindung» des Sowjetsektors von Berlin in die sowjetische Okkupationszone wird also mit dem Moskauer Friedensvertragsprojekt in Zusammenhang gebracht, und der Schritt Pankows erscheint als eine partielle Antizipierung der «Freien Stadt» Westberlin.

Die Rolle Westberlins als Strahlungszentrum des Westens in den Ostblock hinein wird durch eine aggressive Politik der vollendeten Tatsachen schwer beeinträchtigt. Die Stadt büßt gleichzeitig zu einem großen Teil die Funktion als Tor zur Freiheit ein. In jedem Jahr hatten schätzungsweise neun Millionen Bewohner der Sowjetzone und des Sowjetsektors Kinos und Theater sowie andere Kulturinstitute besucht.

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